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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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letzten Zuckungen über noch lebende, gestürzte Menschen wälzten, bildeten ein beinahe unübersteigbares Bollwerk am Brückenzugang. Weinend, heulend, fluchend irrten Kinder, Frauen und Männer umher, ihre Gesichter von Schrecken und Verzweiflung gezeichnet.
    Ganz in Julianes Nähe schlug eine Granate ein, die eine blutende Masse hinterließ. Als sich der Rauch verzogen hatte, sah Juliane, daß der Frau neben ihr die Füße zerschmettert waren. Mit Entsetzen beobachtete sie, daß diese Frau sich am Ufer fallen ließ, ihr vielleicht dreijähriges Kind auf den Schoß zog, ihr Strumpfband abnahm und damit das Kind erwürgte, bevor sie beide von den Hufen eines Pferdes zertreten wurden. Gewaltsam drängte Juliane mit den Männern nach vorn. Inzwischen konnte sie Johannes nicht mehr an der Hand halten, sie klammerte sich an seinen Mantelkragen und spürte Matthäus dicht hinter sich. Sie stiegen über zuckende Körper von Menschen und Pferden, berührten den Boden nicht mehr, sondern wurden von der Masse, die nach der Brücke strebte, getragen und geschoben. Endlich erreichten sie die schwankende, geländerlose Brücke.
    Juliane sah und fühlte nichts mehr, außer Gerters Mantelkragen, in den sie sich festgekrallt hatte. Jemand zog an ihrem Umhang, sie schüttelte ihn mit aller Kraft ab, hörte einen Schrei und ließ Johannes los, als sie erkannte, daß sie Matthäus ins Wasser gestoßen hatte. Verzweifelt bückte sie sich, versuchte ihm die Hand zu reichen, wurde aber sofort selbst in den eiskalten Fluß gedrückt. Mit den Füßen berührte sie den schlammigen Untergrund, sah Matthäus gegen die Strömung ankämpfen und auf das Ufer deuten, von dem sie gekommen waren. Sie verstand: lieber von den Russen gefangengenommen werden als im Fluß sterben.
    Eine Kanonenkugel traf die Brücke, Menschen, Gerät und Holzbrocken stürzten ins Wasser, sie sah, wie Matthäus, von einem Balken getroffen, versank und kämpfte sich zu der Stelle durch, wo er untergegangen war. Es gelang ihr, seinen Körper zu packen, und so schleppte sie ihn mit sich ans Ufer. Weit von der Brücke entfernt, stieg sie zitternd aus dem Wasser, Matthäus hinter sich herziehend.
    Sie setzte sich ans Ufer, bettete den Kopf ihres Mannes in ihren Schoß und küßte ihn auf die Lippen. Seine Augen öffneten sich halb, aber sie sah das Leben langsam aus ihnen entweichen.
    »Matthäus«, sagte sie eilig und legte seine rechte Hand auf ihren Bauch, »du wirst Vater.« Ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht und sie sah seine Lippen Worte formen. Sie beugte ihr Ohr zu seinem Mund und hörte: »Julischka … er soll Jakob heißen.«
    Als sie wenig später von zwei Russen hart am Arm gepackt wurde, war Matthäus tot.

 
Weiterleben
    Aus dem Tagebuch von Johannes Gerter:
    November 1812
    Mit Gewalt drängte ich nun vorwärts, über zuckende Körper von Menschen und Pferden: oft berührte ich mit dem Fuße keinen Boden. In diesem Augenblicke sah ich Viele halb erdrückt zu Boden sinken, um sich nie mehr aufzurichten. Einmal war ich der Gefahr nahe, ein ähnliches Opfer zu werden, aber Verzweiflung lieh mir Riesen-Kräfte! – ich raffte mich immer wieder auf; und unter solch fürchterlichen Kampfe nach Rettung gelang es mir, das jenseitige Ufer zu gewinnen. Betäubt von den, seit zwei Tagen und jetzt noch eben erlebten Gräueln , wie von meiner wunderbaren Rettung, setzte ich mich in einiger Entfernung vom Ufer an ein noch glimmendes Feuer, das eben seine früheren Besitzer, nunmehr wieder vorwärts eilend, verlassen hatte. Von dieser etwas erhöhten Stelle war alles, was auf dem jenseitigen Ufer noch vorging, in meinem Gesichtskreis. Immer näher und näher schloß sich der Kreis der Feinde um die Bedrängten, immer vermehrten sich die Opfer, die die feindlichen Geschosse und die Wellen verschlangen; bis gegen Mittag des 29. die Brücken in Grund geschossen wurden und der Übergang ein Ende hatte. Lange wird dieser Übergang wegen seinen Schrecknissen in dem Andenken der wenigen noch lebenden Militärs, die demselben anwohnten, bleiben. – Kaum 70.000 Menschen erreichten glücklich das andere Ufer. Wenn man annimmt, daß vier Tage zuvor die französische Armee wieder auf 100.000 Mann angewachsen war; so wird diese Zahl – nach Abzug des an der Beresina und in den Gefechten an diesen Tagen erlittenen Verlusts – die ziemlich annähernde sein. Aber in welch traurigem Zustand befand sich nun die gerettete Armee? Fast alle Kanonen und die eroberten Schätze

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