Die Marketenderin
Gefühl trog ihn nicht, denn so unbarmherzig wie die immer schlimmer werdende Kälte konnte kein Feind sein. Außerdem forderte der Hunger stündlich neue Opfer. Zu Beginn des Feldzugs war unter den Soldaten der Großen Armee die Drohung Kutusows kursiert, daß ›die Franzosen noch Pferdefleisch essen‹ würden, was für viele die schlimmste aller Vorstellungen gewesen war. Wenn jetzt eines der wenigen geretteten Pferde fiel, dann stürzten sich ganze Trupps ausgehungerter Menschen darauf und zerlegten es so sorgfältig, daß kein Gramm Fleisch mehr am Kadaver hängen blieb. Um die erbeuteten Stücke wurde erbittert gefochten und mancher Soldat verlor dabei sein Leben.
Gerter wäre vor Hunger gestorben, hätte er sich in der Nacht vor dem Übergang nicht die Taschen mit Kalbfleisch gefüllt. Er verzehrte die fast steinhart gefrorenen Stücke. Aber was für ein Leben, dachte er jeden Morgen, wenn er sich aus dem Schnee grub und zum Aufstehen zwang. Er sah viele Soldaten und Offiziere, die, von Müdigkeit, Hunger und Frost gelähmt, am Morgen auf den Lagerstätten liegenblieben. Sie zogen es vor, lieber in dumpfer Erstarrung den Tod zu erwarten, als sich zu neuen Martern emporzuraffen.
Es gab keine Rangordnung mehr und Gerter sah viele Offiziere, darunter auch Generäle, die mit gesenktem Haupt am Stock über jene Wege schlichen, die sie vor wenigen Monaten triumphierend im Galopp zurückgelegt hatten. Abends schätzten sich diese Offiziere glücklich, wenn ihnen die Soldaten erlaubten, sich zu ihnen ans Feuer zu setzen.
Gerter hatte es längst aufgegeben, nach Bekannten zu suchen, er hätte niemanden erkannt, denn alle Gesichter waren vom Frost und Rauch der Lagerfeuer entstellt.
In dieser verzweifelten Lage gab die geringste Ursache Anlaß zu Streit, beim Kampf um den Pelz eines soeben Gestorbenen oder um einen einigermaßen windgeschützten Lagerplatz fielen die Soldaten übereinander her, stachen oder schossen ihre Kameraden nieder und kannten keine Freunde mehr. Gerter beobachtete einen Grenadier, der auf einen in Pelz gehüllten Oberst zustürzte, der vor Ermattung und Hunger hinfiel. Als der Grenadier nach dem Pelz griff, richtete sich der Oberst mühsam auf und stammelte: »Peste! Je ne suis pas mort.« Der Grenadier trat einen Schritt zurück und erwiderte kalt: »Eh bien, mon Colonel! J'attendrai.« Wenig später marschierte der Grenadier mit dem Pelz weiter.
Fassungslos erlebte Johannes, wie an einem Abend eine Horde von Franzosen auf eine Bande von Portugiesen einprügelte. Die Franzosen setzten sich ihrerseits gegen Italiener zur Wehr, während eine Gruppe von Preußen schnell die Scheune in Beschlag nahm, um die es bei dem Streit gegangen war.
»Wenn Napoleon jetzt sein vereintes Europa sehen könnte«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme zu Johannes, der bereits angefangen hatte, sich sein Lager im Schnee zu graben.
»Herr Oberst!«
»Ganz davon abgesehen, daß ich inzwischen zum Generalmajor ernannt worden bin, schlage ich vor, daß wir alle Förmlichkeit fallenlassen«, sagte Eugen von Röder und deutete auf die Schneegrube, »es erscheint mir nämlich sinnvoll, daß wir einander heute nacht wärmen und ich will nicht, daß du aus Respekt vor meinem Rang von mir abrückst. Das könnte für uns beide tödlich sein. Ich heiße Eugen.« Er reichte ihm die mit bunten Lappen umwickelte Hand.
»Eugen«, wiederholte Johannes verlegen und begriff, wie sich Matthäus gefühlt haben mußte, als er ihm bei der Rettungsaktion im Gutshaus das Du angeboten hatte.
»Wir werden zu dritt sein«, bemerkte der Offizier und deutete auf eine kleine Gestalt, die mit schwankendem Gang auf sie zukam. »Dein Diener hat mir unschätzbare Dienste geleistet. Meinen eigenen Diener habe ich an der Beresina aus den Augen verloren und ich kann nur beten, daß er überlebt hat. Ohne deinen Felix wäre ich nie über die Brücke gekommen. Ein ungewöhnlicher Mann! Wo hast du ihn bloß gefunden!«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Johannes und umarmte Felix, den er schmerzlich vermißt hatte.
Zu dritt gruben sie sich in den Schnee ein, legten sich dicht nebeneinander, fast aufeinander und spendeten sich gegenseitig gerade noch genug Wärme, um die Nacht zu überleben. Gegen Mitternacht wurden sie von markerschütternden Schreien geweckt. Sie hoben die Köpfe aus dem Schnee und sahen die am Abend so umkämpfte Scheune lichterloh brennen.
»Die Rache der Franzosen an den Preußen«, sagte der Generalmajor nur
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