Die Marketenderin
Moskaus, viele Kriegs-Cassen und fast alle Pferde der Armee, gingen bei diesem Übergang zu Grunde. Selten sah man noch berittene Generäle oder Oberoffiziere, noch seltener Equipagen oder Schlitten. Denn die meisten derselben schätzten sich glücklich, mit Hinterlassung ihrer Wagen und Reitpferde, zu Fuße über die Brücke entkommen zu seyn , und besaßen in der Regel nicht mehr, als was sie auf dem Leibe trugen.
Erst als er am jenseitigen Ufer angekommen war, merkte Johannes, daß er Juliane und Matthäus verloren hatte. Er faßte sich an den Mantelkragen, vermeinte immer noch, dort Julianes Griff zu spüren und wandte sich verzweifelt zur Brücke um.
Das schauerliche Gedränge der Menschen schien eher noch zugenommen zu haben und zu beiden Seiten der Brücke stürzten unzählige Unglückliche in die Fluten. Manche Opfer schafften es noch, sich an die hervorstehenden Bohlen zu klammern, aber Sekunden später wurden sie von anderen Herabstürzenden in die Fluten gerissen. Das Chaos war unbeschreiblich und Johannes verstand nicht mehr, wie er es geschafft hatte, hinüberzukommen. Es war ausgeschlossen, umzukehren, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten. Vielleicht hatten der Korporal und die Assenheimerin den Übergang doch noch geschafft.
Nach einer halben Stunde gab er jede Hoffnung auf. Von ihm unbemerkt, mußten seine Freunde ins Wasser gefallen sein und waren zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich tot. Er blickte zur Brücke, neben der immer wieder Granaten einschlugen, starrte auf die Strömung, die Menschen und Tierleiber mit sich riß und konnte sich nicht vorstellen, daß jemandem, der in den Fluß gestürzt war, eine Chance zum Überleben blieb. Er schlug die Hände vors Gesicht und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Er wußte nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als ihn plötzlich jemand an der Schulter berührte. Er wandte sich hastig um, gegen alle Wahrscheinlichkeit plötzlich wieder hoffend. Aber es war nur der Leutnant, mit dem er am jenseitigen Ufer gesprochen hatte.
»Es ist besser, wenn Sie aufstehen, Herr Oberleutnant«, sagte der junge Mann. »Der Kreis der Feinde schließt sich immer näher um uns. Es ist Auftrag gegeben worden, die Brücken zu zerstören. Wer sich jetzt noch darauf oder auf der anderen Seite befindet, ist verloren. Wir müssen fliehen, versuchen, Wilna zu erreichen, die letzte besetzte Stadt.«
Wortlos erhob sich Johannes, wandte schnell den Blick von der Brücke ab, die in diesem Augenblick von Kanonenkugeln getroffen krachend mit ihrer Menschenfracht in den Fluten versank. Er folgte dem Leutnant zu einem Zug von Soldaten und Offizieren, die in düsterem Schweigen nebeneinander durch den tiefen Schnee stapften. Auf der Suche nach Felix und anderen bekannten Gesichtern musterte er die abenteuerlich gewandeten Gestalten, wohl wissend, daß er selbst auch einen seltsamen Anblick bot. Er hatte einige Schals wie einen Turban um den Kopf gewickelt, trug über der Uniform die Reste seines ehemaligen Mantels und darüber einen grünen Pelz, den er vor Tagen einem Sterbenden schnell abgenommen hatte – genau wie sein kostbarstes Kleidungsstück, die beiden Pelzstiefel. Andere trugen polnische Judenmützen, hatten sich den Kopf mit Pelzstücken umwickelt oder Pferdedecken um sich geworfen.
Niemand, der diesem elenden Haufen begegnen würde, hätte erraten können, daß sich unter den Lappen, Decken, verlausten Fellen und Lumpen die Reste von Uniformen der Großen Armee befanden.
Wie konnte es dieser traurige Trupp noch vermeiden, in die Hände der Russen zu fallen? Johannes fragte dies den neben ihm gehenden württembergischen Oberst von Schmidt, dessen Füße mit Pelzfetzen umwickelt waren.
»Mit sehr viel Glück könnten wir davonkommen. Die meisten Feinde befinden sich nämlich auf dem östlichen Ufer der Beresina«, informierte ihn der Oberst, »und unsere Truppen beschäftigen noch die Einheiten auf der westlichen Seite. Wir haben die Brücken in Grund geschossen, weil das unsere einzige Chance zur Rettung war. Die Russen haben weder Material, sie schnell wiederherzustellen, noch Pontons, um überzusetzen.«
Gerter blieb nichts anderes übrig, als das Bild der Menschen zu verdrängen, die von den eigenen Leuten in den Tod getrieben worden waren, die Gesichter von Juliane und Matthäus, die wahrscheinlich dazugehörten.
»Also haben wir einen Vorsprung von einigen Tagen«, sagte er, ohne Trost bei diesem Gedanken zu finden.
Sein ungutes
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