Die Marketenderin
meinem Kind auch später nie zu erkennen zu geben.«
»Aber warum?« fragte Johannes, immer noch leise schluchzend. »Du hättest ihr doch helfen können.«
»Genau das wollte sie nicht. Sie glaubte, daß ihr Kind nur dann zu einer starken Persönlichkeit heranwachsen würde, wenn es sich unabhängig seinen eigenen Weg suchen müßte und nicht zwischen zwei Welten pendelte. Aber jetzt tut es mir leid, daß ich ihrem Wunsch nachgekommen bin.«
Während die beiden Männer in Smorgonie Julianes vermeintlichen Tod beweinten, befand diese sich wieder auf dem Weg nach Moskau. Sie war in diesem Augenblick tatsächlich dem Tod näher als dem Leben, hatte aber bei allem Unglück doch noch Glück gehabt. Die beiden Russen, die sie am Ufer aufgelesen hatten, hätten nicht gezögert, sich mit einer Frau des Feindes zu vergnügen, wenn es ihnen gelungen wäre, ihre inzwischen zu Eis gefrorene Kleidung aus dem Weg zu räumen. Nach einigen ungeschickten Versuchen gaben sie auf, legten sie zu anderen Halbtoten und Toten auf einen Karren und schoben ihn zum eilig eingerichteten russischen Feldlazarett am Ufer der Beresina.
Es wurde immer noch gekämpft, aber der Kanonendonner nahm langsam ab. Die am Ostufer des Flusses befindlichen Truppen der Großen Armee ergaben sich ihrem Schicksal.
»Mein Kind, rettet mein Kind.« Diese Worte hörte Dr. Müller, ein württembergischer Arzt in russischen Diensten, als er sich zu Juliane herunterbeugte. Nach einem halben Jahrhundert in Rußland rührten den alten Mann die heimatlichen Klänge und was kein Flehen erreicht hätte, schaffte ihr Dialekt. Er beschloß, alles zu tun, um diese halb erfrorene junge Frau zu retten, auch wenn dadurch vielleicht andere, die seiner Hilfe bedurften, sterben würden. Er hob sie auf, brachte sie zu seiner Kutsche, wo er sie auszog, mit Franzbranntwein einrieb und in Decken und Pelze wickelte.
Er flößte ihr Hoffmannstropfen ein und bettete sie auf den Sitzen. Unter einem Vorwand verabschiedete er sich von den anderen Ärzten, wendete seine Kutsche und fuhr über die von Leichen gesäumte Heerstraße Richtung Moskau.
Die Kämpfe waren inzwischen fast eingestellt worden. Alle Soldaten und Zivilisten, die zur Großen Armee gehört und die Beresina nicht überquert hatten, waren tot oder gefangengenommen. Der beinahe achtzigjährige Dr. Müller hatte geglaubt, ihm wäre kein menschliches Leid fremd, aber für das, was er in diesen Tagen mit angesehen hatte, fehlten selbst ihm die Worte. Er wollte nur noch weg, wieder zurück nach Moskau und sich dort endlich zur Ruhe setzen. Er hatte sein Haus vor zwei Monaten verlassen und rechnete damit, daß es in der Zwischenzeit niedergebrannt war. Dann würde er eben auf sein Landgut bei Petersburg ziehen müssen und diese junge Schwäbin mitnehmen.
Er stellte sich vor, wie sie nach ihrer Genesung seinen Haushalt führen, und – falls sie lesen konnte – ihm vorlesen würde und falls nicht, er es ihr beibringen könnte. Gerade in den letzten Monaten hatte er oft sehnsuchtsvoll an sein heimatliches Ludwigsburg gedacht, daran, daß er es nie wieder sehen würde und daß dort niemand mehr lebte, der ihn noch kannte. Sicher, er war heimisch geworden in Rußland, aber er blieb der Deutsche, der Fremde, und es würde seinen Lebensabend versüßen, einen jungen Menschen aus der Heimat um sich zu haben und endlich wieder in seiner Muttersprache zu reden.
Er hatte seine Kutsche so voll mit Stroh und Lebensmitteln geladen, die er zum Dank für die geleistete Hilfe bekommen hatte, daß er selbst neben dem Kutscher auf dem Bock Platz nehmen mußte. Jede Stunde sah er nach seiner jungen Patientin, die inzwischen schwer fieberte und phantasierte. Immer wieder vernahm er die Namen ›Matthäus‹ und ›Johannes‹.
Er rieb ihr das Gesicht mit Schnee ein und bangte eine ganze Woche lang um ihr Leben. Der Kutscher, der seit mehr als zehn Jahren dem deutschen Arzt diente und ihn immer als sehr streng, korrekt und extrem unnahbar empfunden hatte – eben typisch deutsch – fragte, warum er sich um diese Frau so intensiv bemühe. Er hob nur die Augenbrauen, als Dr. Müller ihm barsch mitteilte, sie wäre Familie von ihm und darum verdiene sie seine besondere Sorge. Es könnte ja auch so sein, überlegte der Arzt, vielleicht ist sie die Tochter oder Enkelin von meinem Bruder oder einer meiner Schwestern.
Er rang um ihr Leben, legte sich nachts dicht neben sie, konzentrierte seine ganze ärztliche Kunst auf sie, sang ihr mit
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