Die Marketenderin
württembergischen Offizier mit sechs Zehen erzählt – ein seltsam Spielwerk der Natur.«
»Wann hat sie davon gesprochen? In Moskau oder schon vorher?« fragte Eugen eindringlich.
»Lange vor Moskau. Sie wüßte genau, daß bei uns ein Offizier mit sechs Zehen mitmarschiere, hat sie mir gesagt. Ich fand das damals sehr merkwürdig, aber als ich wissen wollte, wen sie meinte, sagte sie nur, daß ich das selbst herausfinden müßte. Und das habe ich jetzt.«
Der Generalmajor blickte auf seinen Fuß. »Dann weiß sie es also, vielleicht hat sie es die ganze Zeit gewußt«, flüsterte er. »Warum sie wohl nichts gesagt hat?«
Felix und Johannes sahen ihn verständnislos an. Tief in Gedanken versunken massierte der Generalmajor seine Füße.
»Die Assenheimerin ist meine Tochter«, flüsterte er schließlich. Johannes ließ sich aufs Stroh fallen, Felix pfiff leise durch die Zähne.
Es war so still in der Stube, daß man das Lärmen der Soldaten zwei Stockwerke tiefer deutlich hören konnte. Eugen von Röder wandte sich Johannes zu, schien aber durch ihn hindurch in eine weite Ferne zu blicken.
»Ich erzähle euch die ganze Geschichte, wenn Felix mir seine erzählt«, sagte er schließlich. »Ich glaube, die ist mindestens so spannend.«
Johannes sah zu Felix hin, dessen Gesicht sich augenblicklich verfinsterte.
»Ich bin an gar keiner Geschichte interessiert«, erklärte er und verließ das Zimmer. Johannes hob die Schultern. »Er hat seine Gründe, glaub mir«, sagte er, »und ich habe nicht das Recht, über ihn Auskunft zu geben.«
»Eine seltsame Haltung einem Diener gegenüber«, murmelte Eugen etwas enttäuscht, »aber daß Felix nicht zum Dienen geboren war, das kannst du mir doch sagen.«
»Einst hatte Felix selbst Diener«, verriet Gerter, »aber den Rest soll er selbst erzählen.«
Er rückte näher zu seinem Vorgesetzten heran, der sein Freund geworden war, musterte ihn ungläubig und fragte: »Du bist wirklich Julianes Vater? Und sie weiß es?«
Eugen packte ihn am Arm und drückte ihn so, daß es schmerzte.
»Sag mir bitte, wo sie ist! Ihr seid doch Freunde, ja, ja, das habe ich gemerkt, auch, daß sie dir gefällt, kein Wunder … Ist sie über die Beresina gekommen, hat sie es geschafft?«
Bilder tauchten vor Johannes auf. Juliane auf dem Marktplatz in Stuttgart, bei der Lebensmittelbeschaffung in Maliaty, ihr Blick im Gutshaus, wo er sie beinahe geküßt hätte, in seinem Schlafzimmer in Moskau, wo er sie geküßt hatte, Juliane, wie sie auf ihn zugerannt kam, Festhalten, Küssen, Weinen, Schreien, und endlich das gierige Zueinanderfinden auf dem Hüttenboden, Juliane im Eiswind ihre Botschaft verkündend und schließlich sah er wieder das Bild, das ihn unablässig verfolgte: die Brücke mit all den Menschen in den Fluten versinkend. Er ließ den Kopf auf die Knie fallen und heftiges Schluchzen schüttelte seinen Körper.
Generalmajor von Röder legte ihm die Arme um die Schultern. Er hatte seine Antwort und auch in seinen Augen standen Tränen. Er schalt sich, daß er seiner Tochter dieses Schicksal nicht erspart hatte. Er hätte dafür sorgen können, daß sie keine Lizenz für den Feldzug erhielt, aber er hatte sich im Gegenteil dafür eingesetzt, daß sie mühelos erteilt worden war. Zu sehr hatte ihn der Gedanke gereizt, die Tochter seiner einstigen Geliebten besser kennenzulernen, sie zu beobachten, um Ähnlichkeiten festzustellen. Meine Eitelkeit hat ihr den Tod gebracht, dachte er betroffen. Er hatte nie geheiratet und, soweit er wußte, auch keine weiteren Kinder gezeugt. Für den Fall seines Todes gab es eine Verfügung, die Juliane zur Alleinerbin einsetzte. Dann hätte sie auch erfahren, wer ihr Vater gewesen war. Eugen von Röder hatte nie daran gezweifelt, daß die alte Assenheimerin ihr Geheimnis bewahrt hatte und wunderte sich jetzt, daß sie es der Tochter doch verraten haben mußte. Warum hatte Juliane dann nie eine Andeutung ihm gegenüber fallenlassen? Warum hatte sie an jenem Abend in Moskau, als sie seine Füße sah, nicht die Gelegenheit genutzt? Warum hatte er selbst es nicht getan? Sie waren allein gewesen, hätten in Ruhe miteinander reden, einander kennenlernen können. War sie zu stolz gewesen?
»Ihre Mutter war eine sehr stolze Frau«, flüsterte er. »Wäre sie nicht Marketenderin gewesen, hätte ich sie sofort geheiratet. So aber mußten wir unser Verhältnis geheim halten. Als sie schwanger wurde, brach sie mit mir und nahm mir das Versprechen ab, mich
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