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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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sie mit Schneewasser weg. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Gegend von Moskau sie sich befand. Sie würde sich zum Kreml durchfragen müssen und an der anderen Seite der Moskwa am Gartenhäuschen anklopfen. Marja und Pjotr würden sie sicher aufnehmen. Sie hatten zusammen gearbeitet und sie war immer freundlich zu ihnen gewesen. Sie hatte in Marjas Armen geweint, als Johannes sie abgewiesen hatte, und Pjotr hatte sie mit Wodka getröstet. Sie hatte gelernt, Blines und Borschtsch zu machen und ein paarmal hatte sie mit dem russischen Dienerpaar sogar zusammen gelacht. Sie würden sich bestimmt freuen, sie wieder zu sehen. Vielleicht könnte sie in der nächsten Nacht wieder in einer der Dachstuben schlafen. Dieser Gedanke und die Vorstellung von einem Teller Suppe auf dem Küchentisch gaben ihr Kraft, aber sie brauchte bis zum Abend, um den Palast zu erreichen.
    Jede Straße hallte von Hammerschlägen wider, Karren mit Schutt verstopften die Durchgänge, Kinder und Frauen klopften Steine und an jeder Ecke boten Straßenhändler ihre Waren feil. Überall waren Einheimische damit beschäftigt, ihre zerstörte Stadt wieder aufzubauen. Juliane entdeckte, daß nicht nur die Reste der niedergebrannten Holzhäuser gegenüber dem Palast weggeräumt waren, sondern daß dort sogar schon neue Gerüste standen. Wie schaffen das die Menschen in dieser Kälte, fragte sie sich fröstelnd und sah zu den dunklen Fenstern des Palasts hinauf. Die Eigentümer waren offensichtlich noch nicht zurückgekehrt.
    Sie wanderte am Kutschhaus vorbei und sah in einem Fenster oberhalb ihres früheren Ladens den flackernden Schein von Kerzenlicht. Schatten tanzten auf der Zimmerdecke, schienen sie freundlich zu begrüßen. Gleich bin ich zu Hause, gleich wird es warm, dachte sie. Sie klopfte an die Tür. Pjotr öffnete das Fenster und sah hinunter.
    »Ich bin's«, rief Juliane hoffnungsvoll, »könnt ihr mich reinlassen?« Er wandte sich um und sagte etwas ins Zimmer. Marja steckte den Kopf aus dem Fenster.
    »Geh weg«, rief sie hinunter und schloß das Fenster wieder.
    Einen Moment lang blieb Juliane betroffen stehen, glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
    »Ich bin schwanger!« brüllte sie dann hinauf, fassungslos, daß Menschen, mit denen sie nie Streit gehabt hatte, sie ohne ein Wort der Erklärung fortjagten wie einen Straßenköter.
    Das Fenster öffnete sich wieder einen Spalt.
    »Matka«, rief Marja kurz angebunden, »geh zu Matka.« Das Fenster klappte zu und die Vorhänge wurden vorgezogen. Matka! Wenn Menschen, mit denen sie gut ausgekommen war, sie nicht mehr kennen wollten, dann würde die alte Matka sie erst recht zum Teufel schicken.
    Sie zitterte, wußte, daß sie noch eine Nacht in einem unbeheizten Haus nicht überstehen würde und zerbrach sich den Kopf, wo sie Hilfe finden könnte. Vielleicht sollte sie sich einfach stellen, einen Uniformierten finden, der sie ins Gefängnis bringen würde oder dahin, wo man Kriegsgefangene unterbrachte. Das war besser, als auf der Straße zu sterben. Aber war es das wirklich? Hatte sie nicht unterwegs gesehen, was die Russen mit ihren Gefangenen machten? Die Toten, die mit ausgestochenen Augen und abgeschnittenen Gliedern an Bäumen hingen, seien von Bauern gefoltert worden, hatte sie gehört und sie hatte mit eigenen Augen gesehen, daß die Kosaken nicht viel Federlesens machten. Nach den Schlachten hatten die Russen nur selten Gefangene gemacht. Warum auch sollten sie Feinde durchfüttern, deretwegen sie ihr eigenes Land, ihre eigenen Ernten vernichten mußten? Nein, sie konnte sich nicht stellen. Um ihres Ungeborenen willen mußte sie versuchen sich zu retten.
    Fjodr! Fjodr würde sie nicht im Stich lassen, der Gärtner mochte sie, dessen war sie sich ganz sicher. Sie mußte nur versuchen, ihn allein zu erwischen, von Olga konnte sie keine Gnade erhoffen. Kraftlos taumelte sie weiter und hielt sich an Mauern, Zäunen und Hauswänden fest. Als sie um die Ecke bog, stieg ihr der Geruch frischen Brotes in die Nase und ließ sie ihr angepeiltes Ziel vergessen. Hier gab es einen warmen Ofen, hier wohnte die alte Matka und wenn ihr die Bäckerin die Tür vor der Nase zuschlug, konnte sie immer noch zur Gärtnerei gehen.
    »Es gibt Zeiten, wo Stolz fehl am Platz ist«, erklärte sie ihrem Kind und klopfte. Sie trat einen Schritt zurück, weil sie nicht riskieren wollte, von einem Besenstiel getroffen zu werden. Matka öffnete die Tür, sah sie von oben bis unten an, rümpfte die Nase und ließ

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