Die Marketenderin
heiserer Altmännerstimme sogar Lieder aus seiner Kindheit vor und zitierte alle Bibelsprüche, die er kannte.
Doch erst, als die rauchgeschwärzten Türme des Kremls zu sehen waren, konnte er sicher sein, daß sie nicht sterben würde. Er war glücklich und stolz auf sich. Es wäre sicher nicht jedem Arzt geglückt, unter solchen Umständen eine Lungenentzündung mit anschließender Rippenfellentzündung zu heilen.
Als er zum ersten Mal die fast schwarzen Augen ohne Fieberschleier sah, fühlte er sich wie der Vater eines neugeborenen Kindes und nahm Juliane in die Arme. Während sie durch Moskau fuhren, erzählte er ihr, wer er war, wie sie gerettet wurde und vermied dabei zur halb zerstörten Stadt hinzublicken. Auf einmal hielt der Kutscher an.
»Angekommen«, rief er ins Innere des Wagens. Der Arzt holte tief Luft, stieg aus und stellte als erstes fest, daß sein Haus noch stand. Dann aber sah er, daß die massive Haustür und alle Fensterläden verschwunden waren, die Glasscheiben zerbrochen und ein großer Haufen Schutt im Vorgarten lag.
»Bleib im Wagen, bis ich dich hole«, empfahl er Juliane und ging zögernd und mit unsicheren Schritten auf das Loch zu, wo einst die Haustür gewesen war.
Als er nach einigen Minuten immer noch nicht zurückkam, ging ihm der Kutscher hinterher. Juliane schob die vielen wärmenden Pelze zur Seite und ließ sich vom Wagen heruntergleiten. Sie sackte sofort zusammen. Ihre Beine wollten sie nicht tragen und sie hatte sich gerade wieder mühsam am Wagen hochgezogen, als der Kutscher aus dem Haus stürzte. Er brüllte ihr etwas auf Russisch zu und als sie verständnislos den Kopf schüttelte, nahm er die Peitsche vom Bock und bedrohte sie. »Doktor morte«, sagte er und fügte ein Wort hinzu, das er von deutschen Soldaten gelernt hatte: »Raus!«
Schon während der ganzen Fahrt hatte er sich darüber geärgert, daß der Doktor der fremden Frau aus Feindesland erheblich intensivere Zuwendung geschenkt hatte als ihm in mehr als zehn treuen Dienstjahren. Immer war er für den Doktor dagewesen, hatte ihn mitten in der Nacht zu Patienten gefahren, ihn auf diesen vermaledeiten Feldzug begleitet, wo er selbst hätte sterben können. Nie hatte er geklagt, sich damit abgefunden, daß sein Herr nicht mit ihm bei einem Glas Wodka über die Probleme der Welt diskutieren wollte und sich überhaupt nicht für sein Privatleben zu interessieren schien.
Als er jetzt ins Haus gegangen war, hatte er den Arzt mit gebrochenem Genick am Treppenabsatz aufgefunden. Ein Blick nach oben zeigte ihm, daß Teile des Geländers fehlten, was dem Hausherrn offensichtlich entgangen war und seinen Tod herbeigeführt hatte.
Das Haus war zwar fast leer geplündert und streckenweise ausgebrannt, aber es war immer noch ein stattlicher Besitz und der Kutscher, der wußte, daß der Arzt in Moskau keine Angehörigen hatte, fand, daß er ihn verdient hätte. Mehr jedenfalls als die fremde Frau, die vielleicht wirklich eine Verwandte war und ihm das Haus streitig machen könnte. Sie mußte also schleunigst verschwinden.
Juliane begriff, daß der Kutscher es ernst meinte. Sie zog noch schnell einen Pelz aus der offenen Wagentür, bückte sich mühsam nach einem angekohlten Stock, auf den sie sich stützen konnte und schleppte sich davon. Schon an der nächsten Ecke ließ sie sich auf den Boden fallen. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, aber sie lächelte, denn sie fühlte die Bewegung ihres Kindes.
»Wie stark du bist! Daß du noch lebst!« sagte sie zu ihm. »Dann muß ich auch stark sein, aber nicht jetzt, ich kann nicht mehr. Morgen.« Auf allen vieren kroch sie die Stufen zu einem leeren ausgebrannten Haus hinauf und fand in einer Kammer neben der Küche eine schmierige Matratze, auf der sie in den Pelz gehüllt die Nacht verbrachte.
Das war ihr Glück, denn nachdem er sich noch einmal befriedigt das Haus angesehen hatte, war dem Kutscher eingefallen, daß er die Fremde den Behörden ausliefern könnte. Sie war Feindin, Gefangene und vielleicht würde er sogar eine Belohnung erhalten. Er suchte die Straßen nach ihr ab, überzeugt, daß sie in ihrem Zustand nicht weit gekommen sein konnte. Er hatte sich sogar kurz in dem Haus umgeblickt, in dem sie Unterschlupf gefunden hatte. Aber die Kammer neben der Küche hatte er nicht entdeckt.
Am nächsten Morgen durchsuchte Juliane die Küche und fand zwischen Glasscherben eine Handvoll Linsen, die sie langsam zerkaute. Die Reste zwischen den Zähnen spülte
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