Die Marketenderin
Armee erschossen und mußte dafür zur Rechenschaft gezogen werden. »Ordnung muß sein und die Disziplin darf nicht untergraben werden«, sagte er sich mit ärgerlicher Stimme laut vor. Plötzlich tauchte das Bild seiner Frau vor ihm auf. Stell dir vor, jemand schießt auf die Assenheimerin … Ich würde auch nicht anders handeln können. Der Mann wäre tot, bevor er bis zwei zählen könnte. Auch wenn mir das Juliane nicht zurückbrächte. Tiefes Mitgefühl für den Bauern packte ihn. Nein, nein, natürlich kann ich ihn nicht festnehmen und ausliefern. Was für einen Sinn hätte das denn? Die Franzosen würden ihn am nächsten Baum aufhängen und dann wären drei Menschen tot. Wegen eines Huhns.
Er warf den Rechen auf den Boden, hob sein Gewehr wieder auf und bückte sich, als er den niedrigen Flur des Hauses betrat. Der Bauer, der immer noch vor seinem Sohn kniete, richtete sich langsam auf und hob beide Arme. Sein verzweifelter Blick schnitt Matthäus ins Herz.
»Es tut mir so leid«, murmelte er, ließ sich vor der Leiche des Kindes ebenfalls auf die Knie nieder, faltete die Hände und senkte den Kopf. Er hätte hinterher nicht sagen können, wie lange er so verharrt hatte, nur, daß ihm dabei der seltsame Gedanke kam, der Krieg wäre jetzt wohl vorbei.
Ein Klirren riß ihn aus der Andacht. Auf den blank gescheuerten Küchentisch hatte der Bauer zwei Gläser gestellt, in die er aus einem Krug eine durchsichtige Flüssigkeit goß.
»Wodka«, informierte er Matthäus und reichte ihm ein Glas.
»Wolodja«, erklärte er dann noch und tippte sich mit einem Finger auf die Brust.
»Matthäus«, gab der Korporal zurück und trank das Glas in einem Zug aus. Er schloß die Augen, als der Wodka in seiner Kehle brannte und seinen ganzen Körper erwärmte. Da erst merkte er, wie sehr er gefroren hatte. Zitternd zog er die durchweichte Uniformjacke aus. Wolodja nahm sie und hängte sie über einen Stuhl, den er vor den Ofen schob, in dem ein Feuerchen brannte. Dann kniete er sich wieder vor das Kind und verharrte eine lange Zeit im Gebet. Schließlich richtete sich der Russe auf, stellte einen tiefen Teller auf den Tisch, goß aus einem Kännchen ein paar Tropfen Öl in die Mulde, legte einen winzigen Kanten trockenes Brot darauf und bestreute es mit ein paar Körnern Salz. Er brach das Brot und forderte Matthäus auf zuzugreifen. Still, mit gesenktem Haupt saß der Bauer am Tisch, der wieder heftiger gewordene Regen hämmerte aufs Dach.
Matthäus mußte das Schweigen brechen, um die unerträglichen Gedanken loszuwerden, die auf ihn einstürmten.
»Parlez vous français?« fragte er.
Der Bauer schüttelte den Kopf. Na, dann bleiben wir doch beim Schwäbischen, dachte Matthäus und deutete auf die gestapelten Scheite neben dem Ofen.
»Darf ich mir etwas Holz mitnehmen?«
Wolodja nickte und warf Matthäus einen Jutesack zu. Reden, reden, nicht denken, dachte der Korporal, dann lerne ich jetzt eben Russisch.
Er hielt ein Scheit hoch, sagte deutlich: »Holz!« und sah Wolodja fragend an. Der nickte nach wenigen Sekunden und sagte ein russisches Wort, Schreiber wiederholte es, zog einen Bleistift und ein schmutziges Stück Papier aus der Uniformjacke und schrieb das Wort auf. Der Bauer trat hinzu, schüttelte den Kopf und malte mühsam wie ein Kind ein paar Krakel hin. Der Korporal betrachtete sich die schiefen Buchstaben, hob die buschigen Augenbrauen und steckte das Papier wieder ein. Der Bauer kann wohl nicht richtig schreiben, dachte er, das gibt's bei uns ja auch. Oder Russisch schreibt sich noch schlimmer als Französisch. Matthäus sprach zwar gut Französisch, weigerte sich aber, die Schreibweise der Sprache ›Voltährs‹ ernstzunehmen. So gern sich Johannes Gerter mit Schreiber auf Französisch unterhielt, so verzweifelt war der Oberleutnant, wenn ihm der Korporal eine Epistel in phonetisch geschriebenem Französisch zukommen ließ. Aber Matthäus ließ sich nicht beirren.
Während der Württemberger die Scheite in den Sack packte, stellte sich der Bauer an den Herd und schlug zwei Eier in die Pfanne. Hinterher hätte Matthäus nicht sagen können, wie er sich mit dem Russen verständigt hatte, aber auf seltsame Weise war es beiden gelungen, den anderen zu verstehen. Wolodja hatte seine Frau bei der Geburt des einzigen Sohnes verloren. Er war Leibeigener eines Herren, der mit seiner Familie auf dem nahegelegenen Gutshof gewohnt hatte und mit allem Gesinde geflüchtet war, als sich die Große Armee
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