Die Marketenderin
und die Hoffnung, daß es innerhalb kurzer Zeit doch noch zu einer Schlacht kommen könnte, trieben die Männer an. Der Wegesrand war von mehr als tausend entkräfteten Württembergern gesäumt.
Als das völlig erschöpfte Pferd der Assenheimerin strauchelte, stieg sie vom Bock und nahm es aus dem Geschirr. Augenblicklich brach das Tier zusammen.
Ratlos stand Juliane vor ihrem Wagen.
Sie meinte die Stimme der alten Selma zu hören: »Napoleons Unfall war ein Zeichen! Ihr werdet alle stürzen!« Nun, ich nicht, dachte sie trotzig.
»Jakob!« rief sie dem Jungen auf dem Bock zu. »Lauf vor zum Korporal. Sag ihm, was passiert ist, vielleicht hat er noch ein Pferd.«
Vielleicht hat er auch noch Wasser und was zu essen, so ein Unsinn, ging ihr durch den Kopf. Woher sollte der Matthäus ein Pferd nehmen? Sie hatte hunderte von Pferdeleichen am Wegesrand gesehen. Jedes Tier war von Soldaten umlagert gewesen, die mit ihren Messern hastig Fleisch vom Gerippe rissen. Sie hatte den Blick abgewendet, als einige Männer die Schlagadern der Pferde aufschlitzten und gierig das warme Blut schluckten. Manche Pferde bewegten sich noch.
Schneller, als sie erwartet hatte, kehrte Jakob zurück. Er saß hinter Johannes Gerter auf jenem Pferd, das Felix gegen Stiefel, die Bibel und die Amtshandlung des Pfarrers eingewechselt hatte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Er ist noch nicht vorausgeritten, er ist noch nicht weg, sang es in ihr.
Juliane zuckte mit keiner Wimper, als Johannes ihr Pferd mit einem Schuß erlöste. Zu dritt luden sie das Tier in den Wagen. Wenigstens würden sie am Abend eine warme Mahlzeit haben. Dann spannte Gerter sein Pferd vor Julianes Wagen.
»Und Felix?« fragte sie nur.
»Er hat den alten Klepper von Hauptmann Haag gekriegt«, antwortete Gerter. »Der darf sowieso nicht mehr reiten. Es ist soeben Order erlassen worden, daß vom Hauptmann abwärts niemand mehr aufsitzen darf.«
»Und warum nicht?«
»Der Mannschaft soll ein aufmunterndes Beispiel gegeben werden«, zitierte Johannes. »Wenn von oben herab kommandiert wird, könnte es leicht zu Meutereien kommen. Es könnte Unmut entstehen, wenn es einigen besser geht. Du hast gesehen, was mit den Pferdeleichen passiert ist?«
Juliane nickte stumm.
»Diese Soldaten haben die Reihen verlassen. Normalerweise müßten sie dafür bestraft werden. Andererseits rettet sie das Pferdefleisch möglicherweise vor dem Verhungern. In Notzeiten gelten eben Ausnahmeregeln. Eine davon ist, daß zum Beispiel Hauptmann Haag nicht mehr reiten darf. Bei mir wurde eine Ausnahme gemacht, weil ich für Sonderaufgaben eingesetzt worden bin. Das Pferd wird dich übrigens Branntwein kosten, aber den werde ich bezahlen, weil du Felix die Stiefel gegeben hast.«
»Aber die Diener wie Felix dürfen reiten?« fragte Juliane ungläubig.
»Bis nach Moskau!« erwiderte Gerter.
»Bis nach Moskau! Wie weit ist das überhaupt?«
»Sehr weit.«
»Und was sollen wir da?«
»Den Zaren zum Aufgeben zwingen. Rußland erobern.«
Juliane breitete die Arme aus, ließ den Blick von rechts nach links bis zum Horizont schweifen und schüttelte den Kopf.
»Und was ist das hier? Das ist doch Rußland!«
»Siehst du eine Armee, die wir bekämpfen können? Siehst du ein Dorf, das wir erobern können? Siehst du auch nur ein einziges Feld, das wir abernten können? Nichts als Vernichtung. Es ist unfaßbar, die Russen zerstören ihr eigenes Land. Was sollen wir denn da erobern!«
»Und wenn sie Moskau abbrennen? Wenn da auch niemand ist? Was wollt ihr dann erobern? Ich verstehe das alles nicht.«
Johannes lachte bitter. Die Antwort auf diese Frage hatte er schon auswendig gelernt.
»Napoleon wird schon wissen, was er tut. Vergiß nicht, dies ist unser erster Feldzug mit ihm. Wir kennen seine Taktik nicht. Die steht noch in keinem Buch, aber sie wird Geschichte machen, verlaß dich drauf. Bisher hat er noch immer gesiegt, und das wird diesmal wohl auch nicht anders sein. Später wird man seine Strategie in den Militärakademien lehren.«
»Wird man da auch lehren, wie man bei so einer Strategie an Essen, Trinken, Schuhwerk und Medizin kommt?« fragte Juliane. »Es wäre mir lieber, wenn mir das jetzt schon einer verraten könnte.«
Wider Willen mußte Gerter lachen.
»Nie denkst du an das Große und Ganze. Immer nur an das Naheliegende«, sagte er fast zärtlich.
Er unterdrückte das starke Bedürfnis sie auf den Mund zu küssen. Weiß der Schreiber eigentlich, was er für
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