Die Marketenderin
Leinenbeutel, verpaßte dem Bauern einen weiteren Tritt in die empfindlichen Teile, schob die schreiende Tochter zur Seite und rannte davon. Daß die Tochter ein Beil in der Hand hielt, sah sie erst, als sie sich umdrehte, um festzustellen, ob ihr der Bauer folgte.
Er riß seiner Tochter das Beil aus der Hand und stürzte los. Im Rennen warf sich Juliane den Leinensack über die Schultern. Als der Bauer erkannte, daß er sie nicht einholen konnte, schleuderte er das Beil nach ihr, und nur der volle Sack verhinderte, daß es sie im Nacken traf.
Außer Atem kam Juliane wieder bei Jakob an und erklärte ihm, daß sie sofort aufbrechen würden. Jakob deutete stumm zum Horizont, wo ein einzelner Reiter auszumachen war, der in hohem Tempo auf sie zukam. Juliane atmete tief durch, wischte sich mit einer ärgerlichen Handbewegung eine Träne aus dem Auge, holte ihr Gewehr aus dem Wagen und sah nach, ob Jakobs Pistole entsichert war.
»Vielleicht ist es ja ein Freund«, meinte Jakob zaghaft, der nicht gewagt hatte zu fragen, warum ihr Kleid zerrissen und ihr Haar gelöst war.
»Wir sind in Feindesland, kleiner Mann«, sagte sie zu dem Jungen. »Hier gibt's keine Freunde. Jetzt geht's nur noch darum, zu überleben.«
Als Johannes Gerter am 29. Juni in Suderwa wieder zur württembergischen Division zurückkehrte, war er entsetzt über den Zustand der Soldaten. Hatten ihn früher erwartungsvoll hungrige Augen angeblickt, so schaute jetzt kaum noch einer auf, als er sich mit Felix und dem jüdischen Dolmetscher Eli Abramow dem Lager näherte.
Überall sah er zerrissene und verfaulende Uniformen, nackte blutende Füße, stumpfe und irre Blicke. Menschen, die so reglos auf dem morastigen Lehmboden lagen, daß man sie für tot hätte halten können. Vielleicht waren sie es auch.
Noch wußte Gerter nicht, daß beinahe die Hälfte der Truppe bei dem bisher beschwerlichsten Marsch des Feldzugs auf der Strecke geblieben war, daß Ruhr und Nervenfieber stündlich Soldaten dahinrafften, daß rund hundert Pferde gestürzt waren und die Artillerie ihre Tiere zur Bespannung der Geschütze hatte abgeben müssen.
»Laßt das bleiben, ihr holt euch die Pest!« schrie er zwei zerlumpte Gestalten an, die auf allen vieren zu Pfützen krochen, aus denen sie wie Hunde das dreckige Regenwasser schlürften. Sein Ruf ging im Grölen einer nahenden Gruppe betrunkener Soldaten unter, die im Keller eines Hauses ein Branntweinfaß entdeckt hatten.
Gerter erschauerte. Mit seinen beiden Begleitern war er vor wenigen Stunden erst einer versprengten Kosakeneinheit entkommen. Mit dieser Truppe würden die Russen leichtes Spiel haben.
Eine scharfe Kommandostimme übertönte den Gesang der Betrunkenen, ließ auch die Männer an den Pfützen aufhorchen und sich langsam erheben.
Gerter blickte erstaunt auf, als sich Mössner näherte. Seine Uniform war fast makellos, sogar seine Stiefel glänzten. Die Augen funkelten, als er eine Peitsche schwang.
»Ihr Hunde!« rief er noch lauter. »Sofort in Reih und Glied!«
Gerter beobachtete voller Verwunderung, wie die Männer dem Aufruf Folge leisteten und sich nach und nach in einer Reihe formierten. Der Junge hat Autorität, dachte er, wie macht er das nur bei diesem elenden Haufen?
»Will der Herr Oberleutnant mit mir die Reihe abgehen?« begrüßte Mössner seinen Onkel. Er schlug mit der Peitsche nach einem höchstens 19-jährigen, der apathisch am Boden lag.
»Aufstehen!«
»Muß das sein?« fragte Gerter leise.
»Ja, Herr Oberleutnant, das muß sein. Wenn die Männer nicht spuren, können wir die Russen nicht schlagen. So einfach ist das.« Sein Blick blieb an Gerters Begleiter hängen. »Was willst du mit dem schmutzigen Jud?« fragte er und streifte mit seiner Peitsche das Pferd von Abramow.
Gerters Geduld war erschöpft. Er riß Mössner die Peitsche aus der Hand, zerbrach sie und warf sie hinter sich.
»Spiel dich nicht so auf, du grünes Bürschchen! Das ist Herr Abramow, unser Dolmetscher, ohne den wir vielleicht nicht überleben können. Ich bitte also, ihn mit Respekt zu behandeln.«
»Herr Abramow«, spöttelte Mössner. »Mit Respekt behandeln! So weit kommt es noch! Ein Jud und ein Ruß dazu. Wenn du uns da nicht eine Laus in den Pelz gesetzt hast …«
Gerter packte Mössner am Arm.
»Wenn dir am Weiterkommen gelegen ist, lieber Mössner, dann solltest du deine Vorgesetzten nicht duzen.«
Mössner war sprachlos. Schließlich stotterte er: »Aber du bist doch … Sie sind
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