Die Markgräfin
die Wölfe so laut geheult, dass ihnen bang wurde, weil man hätte meinen können, das Rudel wäre mitten im Schlosshof. Wieder andere erklärten, um Mitternacht sei aus der Kapelle ein unheimliches Seufzen zu hören gewesen. Die meisten auf der Burg aber hatten einfach deshalb schlecht geschlafen, weil die Bundesständischen in ihren Lagern am Reh- und am Buchberg bis spät in die Nacht hinein getrommelt und Lärm geschlagen hatten.
Georg Thiel klopfte an die Tür des Frauenzimmers und trat zögernd ein. Er schwitzte vor Nervosität, obwohl der mit Spieß und Schwert bewaffnete Wachposten,
der seit gestern vor den Gemächern der Markgräfin Dienst tat, ihn ohne Schwierigkeiten hatte passieren lassen. Der Pfarrer trug sein Messgewand und führte sämtliche Insignien seines Amtes sichtbar bei sich, um möglichst viel Eindruck zu machen. Hier zumindest war sein Kalkül aufgegangen; der Wächter hatte ihn nicht aufgehalten.
Drinnen saß die Markgräfin und klöppelte. Sie wirkte unnatürlich still und blass. Thiel erinnerte sich, dass sie einmal erzählt hatte, das Klöppeln sei während ihrer früheren Gefangenschaft ihr einziger Zeitvertreib gewesen. Heute brauchte sie diesen Rettungsanker mehr als je zuvor.
»Liebden«, sprach er sie vorsichtig an. In seinem Gesicht zuckte ein Nerv. »Ich bin auf dem Weg zu … «
Sie hob den Kopf. »Ihr geht zu Jakob, Vater Thiel?«
»Ich will es versuchen. Er braucht jetzt geistlichen Beistand.«
Sie schloss die Augen und nickte. »Ich wollte ihn heute Morgen schon besuchen, aber man hat mich nicht durchgelassen. Ach Vater, ich muss doch zu ihm! Ich bin doch an allem schuld.«
Thiel schluckte. Er sah ihre Not. »Liebden, Ihr dürft Euch keine Vorwürfe machen. Ihr habt alles versucht, um ihm zu helfen, habt Euer eigenes Leben riskiert … «
Die Markgräfin schien ihn gar nicht zu hören.
»Gibt es … gibt es etwas, was ich ihm von Euch sagen soll?«
Barbara legte das Klöppelkissen weg. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe; sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und vergeblich nach Rettung gegrübelt – da war keine. Jetzt hatte sie aufgegeben.
»Ach, Vater, da gäbe es so vieles. Tausend Dinge, die ich ihm nicht mehr sagen kann. Dass er meine Liebe war, mein Leben, das weiß er. Da sind alle Worte zu wenig. Kennt ihr den griechischen Philosophen Plato? Er sagt, dass im Ursprung die Menschen zwei Köpfe, vier Arme und vier Beine gehabt hätten. Doch als Strafe für die Lästerung der Götter hätten die Unsterblichen sie in zwei Teile gespalten. Seither muss jeder Mensch seine fehlende zweite Hälfte suchen und ist erst glücklich und vollkommen, wenn er sie gefunden hat.«
Thiel nickte und lächelte bedächtig. »Ein schönes Gleichnis, Liebden.«
»Jakob Tiefenthaler war meine zweite Hälfte, Vater. Die Zeit mit ihm hat alles aufgewogen, was ich in den Jahren vorher an Unglück erlebt habe, und wird auch aufwiegen, was noch kommt. Er muss heute für seine Teilnahme an dieser unseligen Verschwörung bezahlen, zu der ich selber ihn gedrängt habe – mir bleibt noch Zeit, bis das Kind auf der Welt ist.«
»Bis dahin wird sich Rettung finden, Euer Gnaden. In einigen Monaten kann viel geschehen. Euer Bruder
hat bis dahin womöglich den Krieg verloren und kann Euch nichts mehr anhaben.«
Barbara legte dem Kaplan lächelnd die Hand auf den Arm. »Vielleicht hab ich gar nicht den Wunsch nach Rettung, Vater Thiel.« Sie tat einen tiefen Atemzug. »Geht zu ihm. Sagt ihm, er soll auf mich warten dort, wo er jetzt hingeht.«
Thiel erstieg mit entschlossenen Schritten die Wendeltreppe des Schneckenturms. Im obersten Stockwerk lag nur ein kleiner Raum mit einer Nische davor, die gerade genug Platz für zwei bis an die Zähne bewaffnete Wächter bot. Der Raum wurde gerne als Gefängniszelle genutzt, weil ein Entkommen durch den engen Treppenschacht unmöglich war und ein Sprung durch das kleine Fenster den sicheren Tod bedeutet hätte. Vor einiger Zeit hatte hier noch der französische Herzog von Aumale als Kriegsgefangener des Markgrafen eingesessen, bis seine Familie das Lösegeld in Höhe von fünftausend Sonnenkronen bezahlt hatte.
»Halt!« Einer der Wächter trat auf Thiel zu, als dieser die letzte Stufe genommen hatte. »Hier darf keiner hinein.«
Der Pfarrer ließ sich nicht einschüchtern.
»Soldat, der Mann dort drinnen wird heute sterben. Er braucht einen Priester.«
»Wir haben Befehl, niemanden durchzulassen.«
Jetzt spielte Thiel die Routine seiner
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