Die Markgräfin
ihrem Tode erschien sie den Nachkommen ihres Geliebten, also den Markgrafen von Brandenburg, immer dann im weißen Gewand, wenn ihnen Tod oder Unheil drohte.«
Georg von Leuchtenberg war als Kind von der Geschichte der Weißen Frau immer besonders fasziniert gewesen, weil die Kunigunde von Orlamünde eine geborene Landgräfin von Leuchtenberg gewesen war. Jetzt empfand er es als einen Wink des Schicksals, dass ihm die Erinnerung an seine Ahnfrau den Weg wies. Ihm fiel auch wieder die Nacht ein, in der Albrecht sich als Weiße Frau verkleidet und den jungen Trockau die Treppe heruntergestoßen hatte. Er nestelte die Spange los, die seinen Umhang auf der Brust zusammenhielt. Langsam und sorgfältig bog er die Fibel auf, sodass die fingerlange Nadel gerade abstand. Mit dem Daumen prüfte er die Spitze, dann legte er den immer noch schlafenden Buben vor sich auf den Tisch. Mit zwei Fingern der linken Hand ertastete er
zitternd die weiche Fontanelle. Vorsichtig setzte er die Nadel an. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und lief ihm über die Schläfe. Er schloss die Augen und zählte bis drei. Dann durchstach er mit einem unterdrückten Aufschrei die Kopfhaut und stieß die Nadel tief ins Hirn des schlafenden Kindes.
Jetzt begann der Albtraum. Leuchtenberg hatte geglaubt, mit dem Nadelstich sei es schnell vorüber und der Säugling auf der Stelle tot. Doch zu des Hauptmanns Entsetzen fing das Kind an, zu zucken und zu schreien. Auf der Einstichstelle bildete sich ein großer dunkelroter Blutstropfen, um den die Haut zu pulsieren schien. Leuchtenberg trat bis zur Wand zurück und konnte seinen starren Blick nicht von dem strampelnden Kind lösen, von dessen Kopf jetzt ein schmales rotes Rinnsal lief. Hör auf, o Gott, hör auf zu schreien, betete der Landgraf und presste die Hände auf die Ohren. Doch es hörte nicht auf; Minute um Minute schrie das Kind, lauter und lauter schrillte seine Stimme in Georgs Ohren. Verzweifelt packte er den Säugling und schüttelte ihn in einem Anfall ohnmächtiger Wut. Doch immer weiter schrie das sterbende Kind. Endlich riss sich der Landgraf den Umhang von den Schultern und drückte den schweren Stoff auf das winzige Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund. Irgendwann war alles still, und der Säugling regte sich nicht mehr.
Danach saß er ruhig da und wartete, das tote Kind vor sich auf den Knien. Er fühlte eine grenzenlose Erleichterung. So fand ihn zwei Stunden später der Markgraf.
»Schau, Albrecht, jetzt hab ich’s dir bewiesen.« Georg streckte ihm das leblose Bündel entgegen.
Der Markgraf berührte das Kind an der Wange. Es war bereits kalt.
»Du hast mir einen wirklich großen Dienst erwiesen, das werd ich dir nicht vergessen, Georg.«
Er zog den schweren Siegelring ab und drückte ihn dem Landgrafen in die Hand.
»Nimm das als Zeichen meiner Dankbarkeit. Du kannst damit das Kapitulationsschreiben siegeln. Und gib ihn mir in Frankreich zurück.«
Dann ging er zum Schreibtisch und räumte etliche verschnürte Schriftrollen aus einer kleinen geschnitzten Truhe. Dann nahm er dem Landgrafen das tote Kind ab und legte es hinein. Sorgfältig versperrte er das Schloss.
»Jetzt wird auch meine Krankheit weichen, das spür ich, mein Lieber. Hör zu, ich will, dass du das hier«, er klopfte auf die Holztruhe mit der Leiche, »irgendwo im Gewölbe fest einmauern lässt. Aus einem Grab in der Erde könnte dieses Ungeheuer womöglich als Wiedergänger zurückkehren.«
Georg nickte. »Verlass dich auf mich. Und was hast du jetzt mit Barbara vor?«
Albrecht lächelte. »Du sagst, die Burg ist nicht mehr zu halten?«
»Beim besten Willen nicht.«
»Dann ist es ganz einfach: Sie wird die Plünderung der Burg durch die feindlichen Truppen nicht überleben. So etwas kommt im Krieg nun mal vor, nicht wahr? Dann hat der Kommandant der Bundesständischen den schwarzen Peter, und die Verwandtschaft kommt bei ihrem Tod nicht auf dumme Gedanken. Ich such mir noch zwei verlässliche Männer für die Aufgabe aus, bevor ich wieder abreite.«
»Willst du heute noch fort?«
»Unbedingt. Ich muss das Land so schnell wie möglich verlassen. Wenn du morgen früh die weiße Fahne hisst, will ich schon über alle Berge sein. Du wirst nach der Kapitulation den Geheimgang benutzen und dich anschließend allein durchschlagen müssen. Wir treffen uns in Frankreich bei Hof.« Albrecht schlug Georg auf die Schulter. Der atmete befreit auf: Der Markgraf würde ihn bei sich behalten. Er spürte den
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