Die Mars-Verschwörung
der Nacht ein neuer Tag heraufzieht, bin ich längst fort.
Es dauerte ein paar Stunden, die Gefangenen zurück zum Kollektiv und in die Krankenstube zu schaffen. Danach verabschiedete ich mich von den Tengu. Sie hatten Wunden zu heilen, und es war nicht zu übersehen, dass das Licht ihrer Hoffnung für Vienne trüber geworden war. Nur Riki-Tiki wollte sich mir immer noch anschließen, und es bedurfte einiger scharfer Worte von Shoei, um sie davon abzuhalten, das Kloster zu verlassen.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich es so oder so vorgezogen, allein loszuziehen, also habe ich mich nach ein paar unruhigen Stunden auf einer Pritsche in der Krankenstube auf den Weg gemacht, ohne jemandem zu sagen, dass ich aufbrechen wollte.
Die Morgensonne ist ein weißes Gespenst ohne jede Wärme, das ein trübes Licht durch die Monsunwolken treibt, und ich rieche Ozon in der Luft. Die rötlichen Felsformationen, die die Straße säumen, schießen an mir vorüber. Verfallene Biokuppelnhuschen an meinem peripheren Blickfeld vorbei. Aus dem linken Augenwinkel sehe ich in der Ferne schwarzgrauen Rauch aufsteigen.
Mein Visier zieren Schmutzstreifen. Höhenwinde rütteln an meinem Trike, und die Zylinder brüllen, als ich mehr Gas gebe. Die Tachoanzeige steigt. Sechzig. Siebzig. Achtzig. Fünfundachtzig.
Die Bischofsstraße teilt die Tharsis-Ebene in zwei Hälften. Anfangs geplant als erste große Hauptstraße zur Ausweitung des Handelsverkehrs zwischen den ursprünglichen Kolonien, verfügte die Bischof über vier Fahrspuren zu beiden Seiten des Mittelstreifens, von denen jede einer eigenen Geschwindigkeitsregelung unterstand. Ein Jahrhundert lang war dies der Weg gewesen, den man einschlug, wenn man es eilig hatte. Dann waren Meere und grüne Täler entstanden, die Siedlungen wurden an Orte mit fruchtbarerem Boden verlegt, und die Bischof wurde nicht mehr gebraucht.
Doch im Unterschied zu vielen anderen Bauprojekten, die während der Orthokratie entstanden waren, ist die Bischof strukturell noch weitgehend in Ordnung. Die Fahrspuren sind überwiegend intakt, und man kann nach wie vor den ganzen Weg vom Labyrinth bis nach Base Camp fahren – dem Ort, an dem die Gründer die erste Marssiedlung geschaffen hatten. Ist man jedoch unvorsichtig und nicht eben vom Glück verfolgt, kann man sich schnell inmitten einer kahlen Landschaft auf einem schlechten Streckenabschnitt wiederfinden, übersät mit Schlaglöchern, die groß genug sind, ein Trike zur Gänze zu verschlingen. Außerdem geht der Treibstoff zur Neige, man ist hungrig und friert im Fahrtwind, weil man für die Regensaison auf dem Tharsis-Plateau nicht angemessen gekleidet ist.
»Ich habe dir gesagt, du sollt einen Regenmantel mitnehmen«, verkündet Mimi, die trotz des dröhnenden Fahrtwinds klar und deutlich zu hören ist. »Und Proviant.«
»Ich habe Proviant dabei.«
»Du hast Snacks dabei. Wie kommst du auf die Idee, du könntest Vienne aufspüren, wenn du dich nur von Honig und Reiskeksen ernährst?«
»Ich habe die CorpCom-Einmannpackungen endlose Monate überlebt. Reiskekse und Honig sind im Vergleich dazu wahre Delikatessen.«
Ich gebe wieder Gas und versuche, den Halt am linken Handgriff nicht zu verlieren. Es ist schwer, mit einem gebrochenen Arm zu fahren. Wenn dann noch ein fehlender Finger dazukommt, hat man ein Problem. So ein kleiner Finger kommt einem gar nicht so wichtig vor – erst dann, wenn er nicht mehr da ist.
Seltsam, dass Vienne und ich durch etwas verbunden sind, das nicht da ist. So war es nicht gedacht gewesen. Wir beide hätten im Zuge der Loyalitätszeremonie einen Schönen Tod finden sollen, statt zu Ausgestoßenen zu werden. Die Zeremonie des Schönen Todes ist so alt wie die Regulatoren. Mit dem Aufstieg der CorpComs war sie zu einem ritualisierten, öffentlichen Spektakel geworden, das per Multinet über den ganzen Globus übertragen wird, damit es wirklich jeder sehen kann.
Zweck der Zeremonie ist es, absolute Loyalität zu beweisen, indem man Selbstmord begeht – ein Menschenopfer für die Richtlinien der Regulatoren und den Lord des jeweiligen Regulators. Traditionsgemäß ist ein Regulator seinem Chief verpflichtet, der wiederum seinem Lord verpflichtet ist. Als der Bischof noch am Leben war, stand der Begriff Lord für den Bischöflichen Rat der Neun, von denen jeder sein eigenes stehendes Heer unterhielt. Mit dem Aufkommen der Orthokratie wurde der Lord zum Oberhaupt der Neun Familien, und bei den CorpComs ist der Lord der
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