Die Maschen des Schicksals (German Edition)
unternehmen. Er war einen Monat zu früh auf die Welt gekommen und schien es noch heute immer besonders eilig zu haben.
„Nein, mein Schatz, du musst in den Kindergarten.“
Sofort machte er ein enttäuschtes Gesicht. Aber er akzeptierte mit einem kleinen Schulterzucken, dass er sie nicht begleiten konnte. Dann rannte er los und verschwand durch den Flur, um sich seinem Bruder anzuschließen.
„Ich hatte vor, in die Blossom Street zu gehen und mir diesen Strickladen mal anzusehen“, erklärte Elise ihrer Tochter.
Sie wusste, dass Aurora sich über ihr neu erwachtes Interesse am Stricken freute. Nach einem kurzen Besuch in der Kanzlei ihres Anwalts war Elise durch die neu gestaltete Straße gelaufen und hatte das Wollgeschäft entdeckt, von dem sie Aurora anschließend begeistert erzählt hatte.
Elise war über die Veränderungen in der Blossom Street freudig überrascht gewesen. Seit Jahren hatte die Gegend mit ihren heruntergekommenen Gebäuden einen Schandfleck dargestellt. Elise war nicht davon ausgegangen, dass eine solche Sanierung stattfinden würde. Anstelle die Altbauten abzureißen, hatte der Architekt die bereits vorhandenen Häuser modernisieren lassen und die verwahrloste Gebäudestruktur verbessert. Durch die Markisen, die Blumen und die bunt gefüllten Schaufenster sahen die Geschäfte sehr viel ansprechender aus. Bei ihr hatte dieses Idyll den Eindruck einer traditionsreichen, freundlichen Nachbarschaft hinterlassen, einer netten kleinen Welt für sich. Es war kaum vorstellbar, dass nur ein paar Häuserblocks entfernt die Wolkenkratzer aus dem Boden schossen. Ein Stück weiter den Berg hinunter befanden sich die Finanzunternehmen, die die City von Seattle bestimmten.
Als sie sich das Schaufenster von „A Good Yarn“ angesehen hatte, war ihr Blick an einem Schild hängen geblieben, auf dem Strickunterricht angeboten wurde. Es mochte ihr vielleicht verwehrt bleiben, ihren Ruhestand so zu genießen, wie sie gehofft hatte. Aber sie würde dadurch doch nicht zur Einsiedlerin werden, die sich nicht traute, auch nur einen Cent auszugeben! Außerdem würde sie das Stricken ja vielleicht auch von ihren finanziellen Problemen ablenken.
Nach einer Tasse Tee in ihrem Zimmer zog sich Elise an. Sie hatte noch immer eine schlanke Figur und wählte einen pfirsichfarbenen Hosenanzug, der sowohl elegant als auch bequem war. Obwohl es Anfang Juni war und die Sonne schien, blieb es immer noch recht kühl. Deshalb würde sie die dazugehörige Jacke brauchen, wenn sie nach draußen ging. Sie steckte sich eine kleine pinkfarbene Kamee an den Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Es war das schönste Schmuckstück, das sie besaß. Maverick hatte es ihr geschenkt, noch bevor sie verheiratet gewesen waren. Sie liebte es und trug es ziemlich oft.
Immerhin hatte Maverick den Kontakt zu seiner Tochter aufrechterhalten. Wenn auch nicht mit solcher Regelmäßigkeit, die Elise angemessen gefunden hätte. Was sie betraf, so wollte sie nichts mit ihm zu tun haben. Aber sie gönnte Aurora die Möglichkeit, ihren Vater kennenzulernen. Das hatte sie immer unterstützt. Die Beziehung der beiden hatte nichts mit ihr zu tun.
Auf einmal blieb sie mit gerunzelter Stirn stehen. Zum zweiten Mal an diesem Morgen dachte sie an Maverick. Nicht, dass sie ihn jemals vollkommen vergessen hätte – wie konnte sie auch, wenn ihr Enkel ihm so ähnlich sah –, doch sie gab sich den Erinnerungen an ihn selten hin. Sie
wollte
nicht an ihn und die Tage und Nächte voller Liebe denken.
Nachdem sie ihr schulterlanges braunes Haar gekämmt hatte, band sie es im Nacken zusammen. Es war noch immer nicht ergraut und ihr ganzer Stolz. Sie hielt in der Bewegung inne, als sie sich an noch etwas erinnerte. Maverick hatte es gern gehabt, wenn ihr Haar offen war. In der Bibliothek trug sie es immer fest zu einem Knoten zusammengebunden, aber wenn sie am Ende eines Arbeitstages nach Hause kam, hatte er als Erstes nach den Haarnadeln gegriffen, um ihre dichten Locken zu lösen. „Rapunzel, Rapunzel“, flüsterte er dann, und sie lächelte … Ein wenig ärgerlich mit sich selbst presste sie die Lippen zusammen und verscheuchte diesen Gedanken.
Aurora goss gerade Milch in die Müslischüsseln, als Elise in die Küche trat.
„Du siehst gut aus, Mom“, bemerkte sie.
Komplimente verunsicherten Elise, und sie tat die Bemerkung ihrer Tochter mit einem Kopfschütteln ab.
„Einen schönen Tag euch“, wünschte Elise den Jungs, als sie die Vordertür öffnete
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