Die Maske des Meisters
bewachsen. Und Claire verspürte Trauer, aber diese war nicht mehr so beißend und erdrückend wie damals.
Das Schrankenwärterhäuschen war zu jener Zeit nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, und dennoch war es das Fragment dieses idyllischen Gemäldes, das am erbärmlichsten aussah. Die Fenster mussten von irgendwelchen Kindern oder Jugendlichen eingeworfen worden sein, denn als Claire ins Haus hineinlugte, bemerkte sie einige große Steine auf dem Boden, die unmöglich auf natürliche Weise ins Innere gekommen sein konnten. Der Fußboden war zwar betoniert, aber die Wände der Hütte waren aus Holz gefertigt, als hätte die Bahn ohnehin nicht damit gerechnet, dass sie lange genutzt werden würde.
Oder sie stammt noch aus dem Sezessionskrieg, grübelte Claire und drückte vorsichtig gegen die Eingangstür. Knarrend schwang sie auf. Das Eigengewicht der Tür riss das obere Scharnier aus der morschen Holzwand. Sie klappte ein Stück weit nach vorne, aber das untere Scharnier hielt sie noch fest.
Im Inneren des Wärterhäuschens war es schummrig. Es roch streng und modrig, nach Rattenkot oder Fuchsurin, Claire konnte es nicht genau bestimmen. Sie trat leise über die Schwelle ins Innere. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, weil sich ihre Augen erst noch an die Dunkelheit gewöhnen mussten und um so wenige Geräusche wie möglich zu machen. Falls diese Hütte tatsächlich Valis Versteck war, konnte es sein, dass er anwesend war. In diesem Falle würde sie nicht versuchen, Cynthia und Liberty zu befreien, sondern Hilfe holen.
Damit würde sie Vali ans Messer liefern, ein Gedanke, der sie belastete.
Das Schrankenwärterhäuschen war nicht viel mehr als ein großer Raum, in dem ein Schreibtisch und einige Schränke standen. Eine Tür führte in ein weiteres Zimmer, doch als Claire sie öffnete, stand sie vor einem Handwaschbecken und einem Loch im Boden, aus dem irgendjemand die Toilettenschüssel herausgerissen hatte.
Rasch schloss sie die Tür wieder. Sie suchte aufgeregt den Fußboden ab in der Hoffnung, eine Falltür oder etwas Ähnliches zu finden. Nichts. Konnte sie sich getäuscht haben? Eine Weile stand sie einfach nur da, schaute aus dem Fenster zu, wie die Schatten immer länger wurden, und dachte nach. Alles passte: Das Häuschen stand in der Mitte der Entführungsorte, Vali kannte die Polizisten und Deputy Sheriffs der Umgebung, Cynthia hatte den Hinweis auf die Bahn fallen lassen, und auch wenn das Haus keinen Keller besaß, so konnte es durchaus selbst als Loch bezeichnet werden.
War er mit seinen Gefangenen geflüchtet?
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. In ihrem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich etwas aus dem Schatten der Zimmerecke löste. Sie erschrak. Ihre Hand glitt automatisch zum Messer, das unter dem Seidenschal steckte, den sie sich um die Taille gebunden hatte, doch bevor sie es erreichte, hatte sich bereits eine Männerhand um den Griff geschlossen und zog es heraus.
Claire rammte dem Angreifer ihren Ellbogen in die Rippen, aber er lachte nur. Blitzschnell legte er seinen Arm um ihre Hüften, zog sie an seinen Körper und hielt ihr die eigene Klinge an die Kehle.
„Du magst Messer doch gar nicht“, raunte er von hinten in ihr Ohr. „Wieso trägst du dann eins bei dir?“
Vali! Er war hier. Hatte er die beiden Frauen weggeschafft und war zurückgekehrt, um seine Spuren zu verwischen?
Ein Regionalzug näherte sich dem Bahnübergang. Er machte sich mit einem lauten Tuten bemerkbar, um zu warnen, die Schienen nicht zu betreten.
„Lass mich sofort los“, brachte Claire gepresst hervor, weil sie sich nicht traute, normal zu sprechen. Die scharfe Klinge so nah an ihrem Hals machte ihr Angst. Dennoch durchflutete sie ein Prickeln von den Haaren bis zu den Zehenspitzen. Vali erregt sie. Und die Gefahr ebenso.
Er drehte das Messer vor ihren Augen, drückte die abgerundete Seite sanft gegen ihre Kehle und zog sie über ihren Hals nach oben bis zum Kinn. Aber das war keine drohende, sondern eine lüsterne Geste, denn Claire spürte seine Erektion an ihrem Rücken. Sein Atem ging schwer. Er war nicht gekommen, um ihr etwas anzutun, dessen war sie sich sicher. Doch sie war auf der Hut, denn sie wusste nicht, wie weit er das Spiel mit dem Feuer treiben würde.
Der Zug kam immer näher. Aufgrund der Stille im Corn Forest hörte es sich so an, als würden seine zahlreichen Räder lautstark aufstampfen.
Claire stöhnte. Sie ärgerte sich über die Reaktion ihres Körpers,
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