Die Masken der Liebe
überzeugt.«
»Um halb eins ist in Ebbenrath kein Lokal mehr auf.«
»Dann stehen sie unter einem Baum und warten.«
»Oder sie liegt verletzt, mit gebrochenen Knochen, irgendwo im Graben der Chaussee. In dieser Dunkelheit kann einem doch alles zustoßen.« Elisabeth Konradi sprang mit einem Satz aus dem Bett. »Heinz, du mußt sofort aufstehen!«
»Aufstehen? Wieso?«
»Wir müssen Gitti suchen.«
»Ich glaube, Eli, dir ist nicht wohl. Gitti suchen … Wo? frage ich dich.«
»Wo? Auf der Strecke nach Marktstett. Sie können nur die Chaussee gegangen sein.«
»Es gibt auch einen kürzeren Weg über die Berge durch den Wald«, wandte Konradi ein, kletterte aber trotzdem aus dem Bett und schlüpfte unlustig und brummend in seine Kleidung.
Elisabeth sagte: »Sanke hat ein Rad bei sich. Damit ist er an die Chaussee gebunden. Überhaupt, wer ist dieser Herbert Sanke? Du kennst ihn nicht, ich kenne ihn nicht, Gitti kennt ihn nicht, Kiel kennt ihn nicht, niemand kennt ihn in Ebbenrath. Weißt du, was er sein kann? Ein Verbrecher! Vielleicht dient ihm seine Lehrmittelvertretung nur als Tarnung. Er sieht so brutal aus. Wenn er nun ein Mädchenhändler ist oder ein Sittenstrolch, der unsere arme Gitti …« Sie schluchzte laut auf und konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke, ihre Schwester in den Händen eines Verbrechers zu wissen, machte sie unfähig, sich überhaupt noch normal zu benehmen. Händeringend rannte sie halbnackt im Zimmer hin und her und stolperte über die Beine ihres Mannes, der sich anzog.
»Ich bin verantwortlich für sie!« rief sie. »Ich bin ihre Schwester! Was soll ich Vater und Mutter sagen, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Der Kerl kann sie ja schon umgebracht und im Wald verscharrt haben. Bei dieser Dunkelheit und diesem Regen sieht ihn keiner, und morgen ist er längst über alle Berge.«
»Verscharren kann er sie nicht«, sagte Heinz mit dem Gemüt eines elefantenhäutigen Mannes. »Er hat keinen Spaten bei sich.«
»Aber er kann sie tief in den Wald irgendwo ins Dickicht schleppen, wo sie nicht gesucht und dadurch auch nicht gefunden wird.«
»Das sage nicht«, meinte Heinz und band seine Schnürsenkel zu. »Die Wälder sind hier nicht groß. Waldarbeiter und Holzfäller kommen in ihnen an jede Stelle.«
»Deine Nerven möchte ich haben!« schrie Elisabeth außer sich. Den ruhigen Ton ihres Gatten empfand sie wie eine körperliche Pein. »Du mußt Brigitte suchen!«
»Ich bin ja schon angezogen. Aber wo? frage ich dich noch einmal.«
»Überall! Guck nicht so dumm! Ich weiß, was dir vorschwebt. Bedeutet dir deine Schwägerin so wenig? Erst verkuppelst du sie, und dann willst du vor den Gartenzaun gehen, wieder kehrtmachen und mir sagen, es hat keinen Zweck. Das schlag dir aus dem Kopf. Du kriegst keine Ruhe mehr von mir. Wie weit ist es nach Marktstett?«
»Zu Fuß gute zweieinhalb Stunden. Und das bei Nacht, bei diesem Wetter! Eli, das ist doch Wahnsinn! Wenn ihr wirklich etwas zugestoßen ist und sie irgendwo liegt, kann ich sie nicht sehen. Oder zweifelst du daran? Im übrigen glaube ich das nicht. Am besten warten wir bis morgen früh.«
»Nein, du suchst sie jetzt!« schrie Elisabeth, »wer weiß, was bis morgen früh geschieht!«
Heinz schüttelte den Kopf, ihm kam die ganze Aufregung sinnlos und äußerst dumm vor. »Wer sagt dir denn, daß überhaupt etwas geschehen ist? Vielleicht sitzen die beiden irgendwo im Trockenen und freuen sich, daß sie so jung und unbekümmert sind.«
»Nein, nein, nein!« Elisabeth Konradi rang die Hände. »Es ist etwas passiert, etwas Schlimmes, ich spüre es.«
Wenn eine Frau etwas spürt oder fühlt, kann die Logik des Mannes in Urlaub gehen. Die Logik wird nie imstande sein, gegen das Gefühl einer Frau anzukommen, denn wenn eine Frau erst einmal ihr Gefühl ins Feld führt, beginnt die Unlogik Purzelbäume zu schlagen. Eine fühlende Frau ist taub gegenüber allen logischen Einwänden.
Das sah auch Heinz Konradi ein. Er war lange genug verheiratet, um zu wissen, wann er zu kapitulieren hatte. Er widersetzte sich deshalb nun nicht mehr länger, sondern nickte ergeben, seufzte dabei und fügte sich in sein Schicksal, Brigitte Borgfeldt in stockfinsterer Nacht zu suchen.
Die Götter sind bei den Leidenden, sagt ein griechisches Sprichwort. Und dieses Sprichwort bewahrheitete sich auch heute wieder, denn als Heinz Konradi einen alten Schlapphut aufsetzte und sich nur noch eine Zigarette anzündete, um ein paar Züge aus ihr zu nehmen,
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