Die Masken der Liebe
sich aus, daß Brigitte dann spätestens um halb zwei wieder in Ebbenrath eintreffen mußte, vorausgesetzt, der Abschied nahm einen normalen Verlauf. Welcher Abschied verliebter Leute aber verläuft normal? Wenn es auch dunkel war, so schimmerte doch schwach das Band der Straße. Verirren konnte sich Gitti also nicht, auch nicht dort, wo der Wald bis an die Chaussee heranreichte. Und wenn sie von einem Auto angefahren und verletzt an der Straße liegen gelassen worden war? Von Fahrerflucht konnte man doch jeden Tag in der Zeitung lesen. Dachte man ganz kriminell, so war es auch möglich, daß ein Pkw-Fahrer Brigitte mitgenommen und in wollüstiger Absicht verschleppt hatte. Auch so was kam leider oft genug vor.
War dies der Fall, so gab es nur eines: Polizei.
Die dritte Möglichkeit war die verrückteste: Brigitte Borgfeldt konnte den Weg von der Brücke zurück durch die Stadt gewählt haben und lag jetzt längst vergnügt im Bett, während er, Heinz, hier an der Brücke versauerte. Das wäre dann der Gipfel der Komik und er, der Schriftsteller und Privatgelehrte Heinz Konradi, wäre der Gelackmeierte.
Die ganze Lächerlichkeit dieser Möglichkeit wurde ihm bewußt. Es fehlte aber die Gewißheit. Unschlüssig blickte er ins Wasser. Um nicht zu frieren, knöpfte er seinen Rock zu.
»Verrückt«, sagte er leise vor sich hin. »Wenn ich wüßte, daß Brigitte schon im Bett liegt, würde ich zu Erich gehen, ihn wecken und noch einmal ein paar mit ihm zwitschern. Der wäre bestimmt damit einverstanden.«
Anstandshalber blieb er aber noch ein wenig jenseits der Brücke stehen und rauchte eine Zigarette.
Elisabeth sollte zufrieden sein. Um einen Menschen zu suchen, braucht man Zeit …
Unterdessen lag Erich Kiel in seinem breiten Bett und träumte sinnigerweise von Anny von Borcken.
Was er träumte, war durchaus dazu angetan, ihn im Schlaf lächeln und schnalzen zu lassen, denn Anny von Borcken saß auf seinem Schoß und gab ihm tausend liebe Küßchen. Er zählte diese sogar und sagte im Augenblick: »Sechshundertfünfundvierzig Stück. Schneller, damit die ersten Tausend voll werden!«
Was Erich Kiel zu dieser kühnen Phantasie anregte und ihm den frevlerischen Traum vorgaukelte, war rätselhaft. Der Traum war durch nichts begründet, denn Anny von Borcken hatte bisher mit Fleiß vermieden, mit Erich Kiel in näheren Kontakt zu kommen. Seine wasserfallartigen Lobreden auf seine eigenen überragenden Fähigkeiten auf allen Gebieten ärgerten sie nur und machten Erich Kiel in ihren Augen zu einem gefallsüchtigen Schwätzer.
Es mochte sein, daß der Schnapsreisende zu jenen Männern gehörte, die von der Abweisung einer Frau maßlos aufgeregt und zugleich angeregt werden, so daß sie um so aktiver werden, je mehr sie den Widerstand der Angebeteten spüren. Es sind dies die verhinderten Despoten oder die Märtyrer am falschen Platz; auf jeden Fall sind sie Leidende ihrer Gefühle und kommen sich vor wie Odysseus, der mit wachsverklebten Ohren an den süßen, nackten, singenden Sirenen vorübersegeln mußte.
Erich Kiel träumte. Er lächelte im Traum und fühlte sich so wohl, wie es ihm im Wachzustand wohl nie geglückt wäre.
Er ahnte nicht, daß eine Stunde später eine Welle von Ereignissen auch ihn aus seinem Bett spülen und ihn vor Fragen stellen sollte, zu deren Beantwortung selbst seine kühnsten Träume nicht ausreichten.
Im Augenblick aber schlief er und küßte Anny von Borcken.
Im Traum natürlich.
Es war der 786. Kuß.
Er schmeckte so lecker … im Traum.
Elisabeth Konradi hatte sich nach dem Weggang ihres Mannes bald angekleidet. Nun stand sie im Zimmer, rauchte eine Zigarette und ärgerte sich, daß sie im entscheidenden Augenblick so hilflos gewesen war und so kläglich versagt hatte.
Aber was soll man auch machen, wenn ein Mensch verschwindet?
Wer weiß denn in solchen Situationen den richtigen Rat?
Anny von Borcken fiel ihr ein. Vielleicht fand die sich mit ihrem überaus realen Geist in einer so verzwickten Situation besser zurecht.
Schnell zog Elisabeth noch eine leichte Kostümjacke über ihr Kleid an, rannte auf die Straße und stieß das kleine Vorgartentor des Häuschens ihrer Freundin auf. Es war gar nicht nötig, Anny von Borcken erst aus dem tiefsten Schlaf zu trommeln, denn das sonst so resolute Mädchen saß am Fenster des Schlafzimmers, hatte ihren Foxterrier Bebsy im Arm und starrte furchtsam hinauf in den dunklen Himmel.
»Nanu?« sagte sie ein wenig kläglich. »Was
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