Die Masken der Liebe
ich bin sogar ein Stück die Chaussee hinaufgegangen bis fast zur Jugendherberge; ich habe dort noch gewartet. Da sagte ich mir, Brigitte wird durch die Stadt zurückgegangen und schon zu Hause sein. Und ich kehrte um.«
Leise weinte Elisabeth vor sich hin. Konradi nahm sie in die Arme und drückte sie tröstend an sich. Auch ihn ergriff die plötzliche Erkenntnis, daß hier ein Unglück geschehen sein mußte.
»Gebt ihr nun zu, daß ich recht hatte?« schluchzte Elisabeth. »Der Kerl hat sie umgebracht oder mitgeschleift und den unbekannten, dunklen Weg allein zurückgehen lassen. In der Finsternis ist Gitti dann in eine Schlucht gestürzt, hat sich vielleicht ein Bein gebrochen, oder sie liegt da und verblutet langsam, seit Stunden schon. Das arme Kind kann sich nicht helfen und windet sich in Schmerzen. Heinz, wir müssen sie suchen!«
»Noch einmal? Wo denn, um Gottes willen?«
»Auf oder neben der Chaussee nach Marktstett. Sie kann nur diesen Weg gegangen sein.«
»Willst du denn bis Marktstett laufen? Zweieinhalb Stunden durch die Nacht?«
»Wenn ich Brigitte finden kann, laufe ich bis ans Ende der Welt. Ich gehe nicht eher ins Bett, als bis ich weiß, was mit ihr los ist.«
Auch Anny von Borcken sah den Fall nun anders. Daß ein Mädchen Sommernächte auf Bänken überlebt, war ihr nichts Neues. Daß aber ein Mädchen von der Korrektheit Brigittes einfach mitten in der Nacht verschwand, kam ihr nun doch bedenklich vor. Hier gab es keine Erklärung mehr, und wenn eine Frau für eine Sache keine Erklärung mehr findet, beginnt es kritisch zu werden.
Heinz Konradi trocknete seiner Frau mit einem Taschentuch die Tränen. Er wußte, daß es jetzt darauf ankam, zu zeigen, daß ein Mann vor solchen Situationen nicht kapitulierte.
»Mein Plan ist folgender«, sagte er aufmunternd, »wir gehen erst hier zur Polizei. Ich lasse aber auch beim Polizeiposten in Marktstett anrufen. Befindet sich Herbert Sanke ohne Brigitte im Hause seines Vaters, ist zu befürchten, daß ihr auf dem Rückweg etwas zugestoßen ist.«
Elisabeth Konradi schluchzte wieder laut auf.
»Befindet sich Herbert Sanke nicht bei seinem Vater in Marktstett«, fuhr Heinz fort, »ist klar, daß die beiden noch als ein komplettes Liebespaar in der Gegend herumschwirren. In diesem Falle muß Elisabeth morgen einen Kuchen backen. Es gibt also nur die beiden Möglichkeiten. Hat sich Herbert Sanke pünktlich von Gitti verabschiedet, muß er per Rad schon längst in Marktstett eingetroffen sein. Ist er das nicht, sind unsere Sorgen überflüssig. Nur eines verlange ich dann: daß Elisabeth vor uns allen schwört, nie mehr zu sagen, meine Schwester tut das nicht!«
»Alles, alles mache ich«, beteuerte Elisabeth Konradi und knöpfte ihre Jacke zu. »Alles – wenn nur erst Brigitte wieder da ist.«
Voller Hoffnung und banger Ahnungen gingen sie zur Polizei.
Die kleine, blaue Lampe über der Tür des Polizeireviers leuchtete matt in der dunstig werdenden Nacht. Das Revier befand sich in einem schmalen, hohen Haus mit einer Laube vor dem Eingang.
Vom Turm der nahen Pfarrkirche schlug es zwei Uhr.
Heinz und Elisabeth Konradi blickten sich an. Sie zögerten noch einmal ein wenig, den Stein nun bei einer Behörde ins Rollen zu bringen, denn war erst einmal die Polizei eingeschaltet, gab es kein Zurück mehr.
»Wir müssen es tun, Heinz«, sagte aber nach kurzem Elisabeth Konradi fest. »Wenn Brigitte etwas zugestoßen ist, müßte ich mir lebenslänglich Vorwürfe machen, nicht alles versucht zu haben, um ihr zu helfen.«
Heinz nickte. Er sah ein, daß diese kritische Situation schnelles Handeln erforderte.
Gemeinsam betraten sie das Polizeirevier. Sie kamen in einen kleinen Flur, von dem drei dunkle Türen abgingen. An einer derselben hing ein Schild mit der Aufschrift WACHE.
Heinz klopfte an, lauschte und drückte, als er nichts hörte, die Klinke herunter.
Die Tür war verschlossen. Nichts rührte sich.
»Nanu?« Konradi blickte sich nach Elisabeth um. »Schlafen die?«
Er lachte etwas unsicher über seinen Witz und klopfte noch einmal an. Stärker, lauter.
Nichts.
»Mann!« stieß Heinz hervor. »Das gibt's doch nicht! Die pennen wirklich! Wo sind wir denn?«
»In Ebbenrath«, sagte Elisabeth sarkastisch. »Weißt du das nicht?«
»Aber im Stadtrat erzählen, daß alles in Ordnung ist bei uns, das können sie«, schimpfte Heinz unter nachdrücklichem, mehrmaligem Kopfnicken.
»Versuch's noch einmal, Heinz«, forderte ihn Elisabeth
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