Die Masken der Niedertracht
eine kleine Aggression, scheinbar harmlos, aber destabilisierend.
Auf einen Brief von Eliane, der die jährliche Neufestsetzung der Unterhaltszahlungen ankündigt, antwortet er: «Angesichts Deiner üblichen Unredlichkeit wirst Du gestatten, daß ich darüber erst mit meinem Anwalt spreche!» Wenn sie einen eingeschriebenen Brief schickt (andernfalls antwortet er nicht): «Man muß verrückt und/oder unanständig sein, um alle acht Tage einen Einschreibebrief zu schicken!»
Auf einen Brief, in dem sie anfragt wegen der Aufteilung der Wochenenden im Mai, antwortet er: «Das Wochenende vom 7. und 8. Mai ist ja das erste Maiwochenende. In Anbetracht dessen, was schon passiert ist, hat mein Anwalt mir geraten, Dich offiziell zu warnen, daß ich gezwungen wäre, Klage einzureichen wegen Nichtüberlassens der Kinder, falls Du Dich nicht an die Terminabsprachen hältst!»
Diese Briefe veranlassen Eliane jedesmal von neuem zu der Frage: «Was habe ich bloß verbrochen?» Selbst wenn sie glaubt, sich nichts vorwerfen zu müssen, sucht sie nach Vorfällen, die sie nicht bemerkt, die aber Pierre falsch verstanden haben könnte. Anfangs rechtfertigt sie sich, dann macht sie sich klar, daß sie um so schuldiger erscheint, je mehr sie sich rechtfertigt.
Auf all diese mittelbaren Aggressionen reagiert Eliane mit Heftigkeit, aber da Pierre außer Reichweite ist, spielt sich das vor den Kindern ab, die sie wie eine Verrückte weinen oder schreien sehen.
Eliane will untadelig sein. Aber für Pierre ist sie schuldig, an allem, egal, woran. Sie ist zum Sündenbock geworden, verantwortlich für die Trennung und alle ihre Folgen. Ihre Rechtfertigungen sind nichts als erbärmliche und nutzlose Anstrengungen.
Es ist Eliane unmöglich, auf alle Verdächtigungen Pierres zu antworten, weil sie nicht weiß, worauf er sich bezieht. Rechtfertigung ist nicht möglich. Sie ist einer Sache schuldig, die unausgesprochen bleibt, von der aber angenommen wird, sie sei beiden bekannt. Wenn sie über diesen gehässigen Meinungsaustausch mit ihrer Familie oder mit Freunden spricht, bekommt sie nur Gemeinplätze zu hören: «Er wird sich schon beruhigen, das ist nicht weiter schlimm!»
Pierre verweigert jede unmittelbare Kommunikation mit Eliane. Wenn sie ihm schreibt, um ihn von einer wichtigen Angelegenheit zu unterrichten, die die Kinder betrifft, antwortet er nicht. Entscheidet sie sich, ihn anzurufen, legt er entweder auf: «Ich möchte nicht mit Dir reden!» oder er beschimpft sie in einem frostigen Ton. Trifft sie dagegen Entscheidungen, ohne ihn zu informieren, tut er unverzüglich per Einschreiben oder über seinen Anwalt kund, daß er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden sei, und er findet Mittel und Wege, die Maßnahme scheitern zu lassen, indem er bei den Kindern Druck ausübt. Auf diese Weise lähmt Pierre Eliane in ihren Entscheidungen bezüglich der Kinder. Es genügt ihm nicht zu zeigen, daß sie eine schlechte Frau ist, er muß auch noch zeigen, daß sie eine schlechte Mutter ist. Daß er damit auch seine Kinder destabilisiert, kümmert ihn kaum.
Bei jeder wichtigen Entscheidung, die die Kinder angeht, ist sich Eliane unschlüssig über die Art und Weise, Pierre um seine Meinung zu fragen, ohne daß dies eine Auseinandersetzung nach sich zieht. Sie schickt am Ende einen Brief, in dem sie jedes Wort reiflich überlegt hat. Er antwortet nicht. Sie trifft die Entscheidung allein. Dann kommt ein eingeschriebener Brief: «Das wurde auf Dein Betreiben in die Wege geleitet, ohne daß ich um meine Meinung gefragt oder von dem Vorhaben in Kenntnis gesetzt worden wäre. Es ist angebracht, Dir in Erinnerung zu rufen, daß ich die Erziehung für unsere drei Kinder gemeinsam mit Dir ausübe und Du folglich keine Entscheidungen fällen kannst, ohne mich zu Rate zu ziehen.» Die gleiche Rede wird den Kindern gehalten, die nicht mehr wissen, wer für sie entscheidet. In der Regel fallen die auf diese Art vorgeschlagenen Pläne ins Wasser.
Einige Jahre nach der Trennung muß Eliane eine wichtige Entscheidung für eines der Kinder treffen. Sie schreibt und erhält, wie üblich, keine Antwort. Sie beschließt also anzurufen. Sofort weiß sie, daß sich nichts geändert hat.
«Hast Du meinen Brief gelesen? Bist Du einverstanden?»
«Mit einer Mutter wie Dir kann man nichts machen, es lohnt nicht den Versuch, Du wirst es so einrichten, daß es läuft, wie Du es willst, Du machst immer, was Du willst, und die Kinder tun immer alles, was Du
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