Die Masken der Wahrheit
Kirche gesucht und dort einen Mann angetroffen, der Stechpalmen für das Weihnachtsfest schnitt; dieser hatte ihnen dann beschrieben, wo der Priester wohnte. Eine junge Frau hatte die Tür geöffnet.
»Sein Liebchen«, sagte Tobias.
»Die Hure eines Gottesmannes«, sagte Margaret und warf verächtlich den Kopf zurück. »Sie war bestimmt nicht wie eine Haushälterin gekleidet, jede Wette.«
Das war mehr, als wir alle für möglich gehalten hatten. Einen Shilling hatte der Priester für das Grab verlangt, zwei Pence für den Totengräber und zwei Shilling und zehn Pence für sich selbst. »Der Lohn eines Arbeiters für zwei Wochen.« Straw wischte sich mit einem zerlumpten Ärmel über die glitzernden Stoppeln auf seinen Wangen. »Bloß dafür, daß der Pfaffe vor einem Loch im Boden irgendwas murmelt, und für den Klumpen Lehm, mit dem es dann zugestopft wird.«
»Das hat unsere Gemeinschaftsbörse wieder mal kräftig gebeutelt«, sagte Martin. »Jetzt bleiben uns noch achtzehn Pence und ein halber Penny.«
»Hast du etwa eingewilligt?« fragte Stephen. Er gehörte zu den Menschen, die stets nörgeln und quengeln. Nun richtete Martins Zorn sich auf ihn.
»Fängst du schon wieder an zu kritteln?« Wenn er wütend war, mußte man auf der Hut vor ihm sein. Er konnte seinem Zorn weder durch Gesten noch durch Geschrei Luft machen – seltsam für einen Mann, der nicht nur sämtliche Gebärden vorgetäuschter Gefühle beherrschte, sondern auch jenes Gefühl des Schauspielers, das durchs Vortäuschen echt wird. Doch unmittelbar empfundene Gemütsbewegungen waren für ihn wie ein Leiden, das er bekämpfen mußte. Er besaß keine Ausdrucksmöglichkeit dafür, nur das Zeichen der völligen Unbewegtheit. Und hinter dieser Stille – nur eine Winzigkeit dahinter – lauerte die Gewalt.
»Wir waren uns doch schon einig, bevor wir hierherkamen«, sagte Springer. »Weißt du das denn nicht mehr, Stephen?« »Was den Preis angeht, hatten wir keine Grenze festgesetzt«, sagte ich und schaltete mich zum erstenmal in die Debatte ein, was mein gutes Recht war, wie ich fand. »Genau so, wie es zutrifft, daß ignorantia iuris non excusat, so gilt dies auch für den Preis, pretium; dies ist ein sehr wichtiges Prinzip in …«
»Ich wußte gleich, daß wir über kurz oder lang einen Löffel Latein zu schlucken bekommen«, sagte Stephen und musterte mich finster. Doch ich war nicht beleidigt, denn ich erkannte, daß diese Ablenkung ihm guttat, ja, daß sie notwendig gewesen war. Und im gleichen Augenblick begriff ich überdies, daß sämtliche Mitglieder der Theatertruppe Rollen spielten, auch wenn sie ganz unter sich waren und niemand ihnen zuschaute. Jeder hatte seinen eigenen Text, und es wurde von ihm erwartet, daß er ihn sprach. Wäre dem nicht so, ließe sich gar kein Gespräch führen, weder unter uns noch irgendwo sonst auf der weiten Welt. Vielleicht war diese Rollenverteilung irgendwann einmal festgelegt worden: Martin, der Fanatische; Springer, der Zaghafte und Liebevolle; Stephen, der Streitsüchtige; Straw, der Schwankende und Unberechenbare; und schließlich Tobias mit seinen Sinnsprüchen und der Stimme des gesunden Menschenverstandes. Wann diese Rollen einst verteilt worden waren, war längst in Vergessenheit geraten. Und nun hatte auch ich meinen Part in dieser Theatertruppe übernommen. Auch ich hatte meinen Text zu sprechen. Meine Rolle bestand darin, den Moralapostel zu spielen, meine Sprüche mit Latein zu würzen und alles ins Abstrakte zu wenden, so daß Straw die Nase rümpfen und in spöttischer Zustimmung weise nicken und Stephen böse dreinblicken und Springer lachen konnte und Martins Zorn besänftigt werden. Die einzige Person, die keine Rolle spielte, war Margaret; sie besaß weder eine Stimme draußen, vor dem Publikum, noch eine Stimme drinnen in unserer Runde.
Langsam nahm Martin den Blick von Stephen. »Diese Würmer, die sich von der Allgemeinheit nähren«, sagte er, »sie wissen von den Lehren der Kirche so wenig wie von Sitte und Anstand. Sie wissen nur, wie man während einer Beichte schläft, wie man eine Flasche leert und ausstehende Gelder eintreibt. Und damit sie das besser bewerkstelligen können, arbeiten sie Hand in Hand mit den Adeligen und sorgen dafür, daß das einfache Volk nicht von der Scholle loskommt.«
Seine Worte waren beleidigend für die Kirche, doch ich erhob keinen Protest. Um die Wahrheit zu sagen: Da ich nun einmal den
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