Die Masken der Wahrheit
William beim Turnier dabei ist, der Sohn unseres Herrn und eine Zierde des Rittertums. Noch nie ist er aus dem Sattel gestoßen worden.«
»Wer ist eigentlich dein Herr?«
»Was?« sagte der Knecht, und auf seinem schlichten Gesicht spiegelte sich Erstaunen ob unserer Unwissenheit. »Lord Richard de Guise natürlich, zu dessen Baronie diese Stadt und alle Ländereien östlich von hier bis zum Meer gehören. Im ganzen Land ist er berühmt dafür, daß er den Bedürftigen Almosen gibt und Übeltäter bestraft und ein gottesfürchtiges Leben führt – so Leute wie euch würde er nicht mal in seine Burg lassen.«
Also war es seine Burg, die wir am Morgen von der Straße aus gesehen hatten. Vor meinem inneren Auge erschien wieder das Bild: die dicht gedrängten Häuser in ihrer Hülle aus Rauch, die Befestigungen und die Fahnen dahinter, die empor zum Licht ragten, und das Blinken von Metall hoch oben auf der Brüstung.
Der Stallknecht war schon im Begriff, sich abzuwenden, als ich aus purer Neugier eine Sache ansprach, die mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seit der Wirt sie erwähnt hatte: »Tja, mit dem Turnier und wo ihr überdies den hohen Richter erwartet, werdet ihr wohl eine Menge zu tun haben.«
Das Licht schwand jetzt mit jedem Augenblick rascher; Fackeln wurden angezündet und in Halterungen an den Mauern im Hof gesteckt, und auch oben in den Zimmern des Wirtshauses sah man die ersten Lampen aufleuchten. Der Fackelschein schuf Wellenmuster aus Licht und Schatten auf dem dunklen Mauerwerk und tanzte über das feuchte Pflaster des Hofes. Hinter mir konnte ich das Atmen der Kühe hören. »Was sucht der überhaupt hier?« fragte ich. »Was führt den Richter in den Tagen vor Weihnachten aus einem großen Ort in so einen kleinen Flecken?«
Das Gesicht des Stallknechts war im Schatten gewesen, doch als er sich abwandte, fiel ganz kurz Licht darauf, und ich sah, daß seine Miene sich verändert hatte: Sie war abweisend geworden. »Was weiß ich«, sagte er. »Die Gerichtsverhandlung hat schon stattgefunden. Ich kann jetzt nicht länger bleiben; ich werde nach oben gerufen.«
»Besser, als nach unten gerufen zu werden.« Diese Bemerkung, begleitet von einem glucksenden Lachen, kam von Straw, der unversehens aus dem Inneren des Schuppens hinter uns aufgetaucht war. Man hatte drinnen eine Fackel angezündet, und um sein zerzaustes Haar erstrahlte ein heller Heiligenschein.
»Was für eine Gerichtsverhandlung?« fragte ich. »Ist denn irgendein Verbrechen geschehen?«
Der Stallknecht zögerte; augenscheinlich schwankte er zwischen Vorsicht und dem genußvollen Gefühl, derjenige zu sein, der Bescheid wußte. »Gott sei’s geklagt, ja«, sagte er schließlich. »Thomas Wells wurde ermordet. Vorgestern hat man ihn auf der Straße vor der Stadt gefunden. Die Tochter von Roger True wurde vom Sheriff für schuldig erklärt und soll nun gehängt werden.« Er sprach die Namen so aus, als müßte jeder sie kennen.
»Der Kerl wird die Frau betrogen haben«, sagte Margaret, als könnte es nur diesen einen Grund geben. Auch sie hatte sich zu uns an der Tür gesellt. »Bestimmt hat er ein falsches Spiel mit ihr getrieben.« »Aber wenn die Frau bereits schuldig gesprochen wurde«, fragte ich den Knecht, »weshalb kommt dann der Richter mit seinem Stab hierher?
« Er gab keine Antwort darauf, sondern schüttelte nur den Kopf und entfernte sich rasch von uns, eilte unter den Torbögen hindurch und verschwand im Wirtshaus.
»Das ist aber eine flinke Rechtsprechung in dieser Stadt«, sagte Straw. »Vor zwei Tagen erst wurde der Mann auf der Straße gefunden, und schon hat man der Frau den Prozeß gemacht und sie verurteilt.«
Wir sprachen dann nicht weiter über diese Angelegenheit, und ich glaubte, daß wir mit diesem Mord nichts mehr zu tun haben würden; doch ich sollte mich irren.
Dann kamen Martin und Tobias zurück, und was sie uns zu sagen hatten, hatte jeden auf seine Weise betroffen: Tobias machte einen abwesenden Eindruck und schien eher seinen Hund im Kopf zu haben als sonst etwas, wohingegen Martins Gesicht weiß war vor Wut. Der Priester, berichtete er, ein fetter und träger Kerl mit schwerer Zunge – eine bezeichnende Herabsetzung aus dem Mund eines Mannes, dessen Bewegungen so geschickt waren wie seine Redeweise –, dieser Priester habe für Brendans Beisetzung vier Shilling verlangt. Sie hatten den Geistlichen zuerst in der
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