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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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gekehrt, die Finger ausgestreckt und gespreizt. Diese Geste war seine eigene Erfindung. Für einen Augenblick – als er innehielt, um festzustellen, welche Wirkung seine Versuchung zeitigte – stand er da wie die Verkörperung einer wollüstigen Lockung. Dann begann er wieder, sich schlängelnd zu bewegen und durch Gebärden deutlich zu machen, welche Wonnen Thomas Wells erwarteten, falls er ihm folgte: feinstes Gebäck und Pasteten und süße Getränke und die Wärme des Kamins und mehr noch – in seinen gewundenen Bewegungen lag auch etwas Sinnliches verborgen.
       Dieser Wechsel von den schlängelnden Bewegungen der Lust zur unbewegten Pose des Beobachtens hatte etwas Erschreckendes, sogar für mich, der ich gesehen hatte, wie Straw diesen Übergang in einer Ecke des Schuppens für sich allein geprobt hatte. Das Publikum verhielt sich mucksmäuschenstill. Als ich hinauf zu den Zimmern über uns blickte, sah ich geöffnete Fenster und Gesichter, die uns beobachteten. Eines dieser Gesichter war weiß und trug eine eng sitzende Kappe, und ich fragte mich, ob dies der Richter war. Dann gelangte ich zum Ende meiner Ermahnungsrede:
 »Wem erst die Sünde auch süß erschien,
     Der kann dem Urteil nicht entfliehn,
     Wenn ihn der Tod ereilt …« 
      Thomas Wells stand in seiner schlichten Kleidung zwischen uns und blickte von einem zum anderen. Seine Augen waren weit geöffnet, sein Gesicht tiefernst, und er drehte den Körper in der Hüfte immer demjenigen zu, auf den er schaute, so daß Kopf und Körper stets eine gerade Linie bildeten. Ich sah, wie sehr er sich mühte, tief genug zu atmen, und ich fühlte seine Furcht auch in mir, vielleicht der Stille im Publikum wegen – es wurde nicht getuschelt und nicht herumgealbert; die Leute saßen vollkommen stumm da.
       Auch Straw mußte es gespürt haben. Er war stets empfänglich für Stimmungen, und nie ließ sich vorhersagen, wie er darauf reagierte. Nun tat er etwas, das in allen unseren Proben nicht geschehen war. Bis zu diesem Augenblick hatte nur ein beschränktes Maß an Lüsternheit in seinen Bewegungen gelegen, und dies eher um des Publikums als um des Jungen willen. Jetzt aber fuhr er sich mit den Händen langsam den Körper hinunter, über Brust und Unterleib, in einer Bewegung der Selbstverliebtheit; dann drehte er die Handflächen nach außen und legte sie so aneinander, daß sie die Gestalt der Pfeilspitze annahmen. Mit diesem Pfeil fuhr er sodann die Linien seiner Lenden entlang und ließ die Hände schließlich dort ruhen, um die Gestalt des Venushügels nachzubilden; dies alles zielte allein auf Thomas Wells, wobei Straw den Körper hin und her wiegte; es war eine Geste des Stolzes und der Kraft und der schrecklichen Verlockung. Derweil ich ans Ende meiner Predigt gelangte, stand die Frau noch immer lockend da und zeigte auf den Ort der Lust, wobei der Stoff ihres Kleides sich straff über der Gabelung ihrer Beine spannte, so daß die Geschlechtsteile eines Mannes darunter sichtbar wurden.
       Thomas Wells ging auf sie zu; auch er spielte nun aus dem Stegreif und folgte seinen inneren Antrieben. Er bewegte sich wie jemand, der sich zwischen Wachen und Schlafen befindet, und machte schleppende Schritte, wie unter einem Zauberbann. Ich wandte mich dem Publikum zu und vollführte die Geste der sorgenvollen Resignation, indem ich mit halb erhobenen Armen die Schultern zuckte. Nun aber, als der Junge sich vorwärtsbewegte, hörte man aus dem Publikum plötzlich eine Stimme, einen Schrei des Zorns oder der Empörung. Es war eine Frauenstimme – und da sie in der Stille erklang, war sie durchdringend und laut. Straw drehte sich um und wollte schauen, woher der Schrei gekommen war, und ich hörte seinen keuchenden Atem und sah, wie seine Brust sich hob und senkte, als er schwer Luft holte. Ich trat nach vorn, senkte den Kopf und machte abermals die Geste der besorgten Resignation – in der Hoffnung, Springer und Straw auf diese Weise genug Zeit zu verschaffen, sich hinter den Vorhang zurückzuziehen und sich auf die Mordszene vorzubereiten. Doch wieder gellte die Stimme der Frau, und diesmal schrie sie die Worte hinaus. »So war’s nicht!« rief sie. »Mein Junge ist nicht mit ihr gegangen!« Ihre Stimme war laut, obwohl man ein tränenersticktes Schluchzen heraushören konnte. Sie blickte nicht zu uns hinüber, sondern auf die Leute, die um sie herum standen, und das war schlimmer. »Mein Thomas war ein guter Junge«, rief sie ihnen flehentlich

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