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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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zu.
       Jetzt erhoben sich auch von anderen Zuschauern Rufe. Bewegung entstand im Publikum, jenes Rascheln in den Reihen, das Gewalt verheißt. Die Gefahr für den Schauspieler, an Leib und Leben Schaden zu nehmen, kommt wie die Stimme des Windes in den Bäumen. Hört man sie einmal, vergißt man sie nie mehr. Wir drei standen wie erstarrt. Bei dem Lärm konnten wir nicht weitermachen; wir konnten uns aber auch nicht zurückziehen, oder das Stück war durchgefallen. Da kam Martin hinter dem Vorhang hervor. Er hatte die Haube der Menschheit aufgesetzt, schob sie jedoch rasch zurück, als er jetzt den Zuschauern gegenüberstand, während er das Handgelenk drehte, um uns anderen das Zeichen für ›Themenwechsel‹ zu geben.
       »Warum, Ihr guten Leute, ist er mit ihr gegangen?« rief er, »Thomas Wells wurde nicht am Straßenrand getötet.«
       Diese Rufe hallten über das Geschrei der Zuschauer hinweg und hatten einige Augenblicke der Stille zur Folge, und in diese Stille sprach Martin laut hinein. Sein Gesicht war weiß, doch seine Stimme klang fest und voller Selbstvertrauen.
       »Gütiger Himmel, es geschah doch nicht auf diese Weise«, sagte er. »Eine solche Tat würde die Frau doch nicht an einer Straße begehen, an der Leute vorüberkommen könnten.« Das Schweigen im Publikum hielt an. Nach einer kurzen Pause wandte Martin sich mir zu, streckte den Arm in meine Richtung aus und rief: »Du, Guter Rat, sag uns, warum Thomas Wells nicht auf dich gehört hat.«
       Mir war klar, daß ich schnellstens antworten mußte, solange noch Stille herrschte und man uns hören konnte. Und so sagte ich, was mir gerade durch den Kopf ging: »Ach, guter Mann, der Mensch lebt nun mal seinen Vergnügungen …«
       Jetzt, unter Martins Blicken, gelang es Springer, seine Furcht auf bemerkenswerte Weise zu bezwingen. Er machte einige Schritte nach vorn, wobei er zugleich jene Geste vollführte, welche das Bekenntnis des Adam begleitet: »Die Frau hat mich in Versuchung geführt, und da bin ich mit ihr gegangen«, sagte er. Während er sprach, wandte er sich Straw zu und wedelte kurz und schnell mit den Fingern der rechten Hand, wobei er die Bewegung mit dem Körper vor dem Publikum verbarg. Diese Geste kannte ich damals noch nicht. Heute weiß ich, daß man dieses Zeichen macht, wenn der, den man anschaut, etwas Bestimmtes wiederholen soll. »Mit ihrem Körper hat sie mich in Versuchung geführt«, sagte Springer.
       Straw reckte sich zu seiner vollen Größe empor. Die Sonnenmaske der Schlange mit ihrem starren Lächeln richtete sich auf uns und alle Zuschauer. Mit der gleichen schlängelnden Bewegung wie zuvor liebkoste die Versucherin sich selbst, bildete mit den Händen die Gestalt des Pfeils am Ort der geschlechtlichen Lust, und schwenkte die Schultern in Kraft und Stolz. Und wieder war die Stille im Publikum so vollkommen, daß ich den Flügelschlag einer Taube vernahm, die sich über das Dach des Wirtshauses erhob.
       Jetzt endlich konnten wir uns allesamt zurückziehen, ausgenommen Thomas Wells, der bleiben mußte, während Avaritia und Pietas sich bereit machten, um die Seele der Frau zu kämpfen. So waren wir durch unsere eigenen Anstrengungen errettet worden. Doch eben diese Anstrengungen – und das Wissen, um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen zu sein –, befreite irgend etwas in unserem Inneren, eine Empfindung, die zuvor eingesperrt gewesen war.
       Zuerst wurde sie bei Springer offenbar, den wir allein vor den Zuschauern hatten stehen lassen. Es gibt eine Art verzweifelte Kühnheit, die den Ängstlichen überkommt, wenn seine Furcht einen bestimmten Punkt überschritten hat, und vielleicht war es eben diese Kühnheit, die Springer jetzt antrieb. Um die Stimmung der Zuschauer zu heben, hatte er vor der Darstellung des Mordes das altbekannte Gestenspiel vom Eierdieb aufführen wollen, dem die gestohlenen Eier zerbrachen, die er in der Kleidung verborgen hatte. Springer hatte diese Pantomime sogar geprobt und uns alle in dem Schuppen damit zum Lachen gebracht. Doch statt das Spiel aufzuführen, sprach er nun direkt zu den Leuten. Während wir beisammenstanden, vernahmen wir seine Stimme, hoch und klar und noch ein wenig kindlich. Wir hörten, wie er eine Frage stellte – eine ganz schlichte und einfache Frage, auf die aber keiner von uns anderen gekommen war.
       »So löst denn ein Rätsel für mich, Ihr guten Leute«, hörten wir ihn sagen. »Woher wußte die Frau, daß ich die

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