Die Masken der Wahrheit
und wir alle wußten es.
»Welche Fragen hat der Richter dir gestellt?« wollte Martin von Margaret wissen.
»Er hat gefragt, woher wir gekommen sind und wohin wir gehen wollen. Und er wollte wissen, wer den Einfall hatte, den Mord als Schauspiel aufzuführen, und wie wir in so kurzer Zeit so viel darüber in Erfahrung bringen konnten.«
»Und was hast du ihm gesagt?«
»Ich hab’ ihm seine Fragen beantwortet. Warum hätte ich’s nicht tun sollen? Ich habe ihm gesagt, es wäre deine Idee gewesen, und da wollte er deinen Namen wissen, und ich hab’ ihn genannt. Was ist so schlimm daran?«
Martin lächelte. »Es ist überhaupt nichts schlimm daran«, sagte er. »Du hast gut daran getan, mit der Sammelbüchse hinauf zur Galerie zu gehen.«
»Und wir alle würden gut daran tun, aus dieser Stadt zu verschwinden, solange wir’s noch können«, sagte Springer. Martins Lächeln blieb. »Aus dieser Stadt verschwinden?« entgegnete er. »Aber wir haben doch versprochen, das Stück noch einmal aufzuführen. «
Wir blickten ihn an, wie er lächelnd dort stand in dem rötlichen Licht, das durch die Vorhänge fiel, die leere Börse in der einen Hand, die Sammelbüchse mit dem Geld in der anderen. Auf keinem der Gesichter um mich herum konnte ich einen erkennbaren Ausdruck feststellen. Heute glaube ich, es lag daran, daß uns nichts mehr überraschen konnte.
»Das Stück noch einmal aufführen?« sagte Stephen. »Was soll das heißen: wir haben’s versprochen? Meinst du, als wir es ausgerufen haben? Wenn man ein Schauspiel ausruft, ist das noch längst kein Versprechen. «
»Wir haben über zehn Shilling eingenommen«, sagte Martin. »Heute abend werden wir noch mehr Geld verdienen.«
»Aber wir haben genug Geld«, sagte ich. »Wir haben jetzt schon genug, um nach Durham zu kommen. Mehr als genug.«
»Wir könnten wieder so viel einnehmen«, sagte Stephen und machte das Zeichen für ›Geld‹, indem er die Faust ganz schnell öffnete und wieder schloß. Daß gerade Stephen sich so rasch dafür aussprach, noch zu bleiben, war nicht weiter verwunderlich; jedenfalls will es mir heute so erscheinen. Stephens Vorstellungskraft war so schwach, wie sein Körper stark war, und sein Gespür für kommende Dinge war wenig ausgeprägt.
»Wieder so viel, sagst du? Das Doppelte werden wir einnehmen!« sagte Martin. »Der Ruhm unseres Stücks wird sich verbreiten. Und im Dunkeln, mit den Fackeln, die an den Wänden stecken …«
»Bei allen Heiligen, das gäbe ein prächtiges Spektakel«, sagte Straw. Schauspieler sind sonderbare Wesen. Obwohl immer noch blaß und zittrig, klatschte Straw bei diesem Gedanken in die Hände, dem Gedanken, selbst an dieser Aufführung mitzuwirken. Straw blickte nie sonderlich weit über die eigene Rolle hinaus.
»Wir werden feines Leder kaufen, und Tobias wird unsere Schuhe so gut flicken, daß wir beim Gehen trockene Füße behalten«, sagte Martin. »Margaret bekommt Stoff für ein neues Kleid. Zum Schutz gegen das Wetter werden wir uns dick gefütterte Mäntel zulegen; jeder bekommt seinen eigenen. Die ganze Weihnachtszeit gibt’s Fleisch und Bier. Und du, Springer, bekommst Wildpastete.«
Der arme Springer, dessen Gesicht noch feucht von Tränen schimmerte, lächelte selig, als er diese Worte vernahm. So hatte Martin uns wieder einmal auf seine Seite gezogen. Doch ging es dabei um mehr als nur um Geld, und ich glaube, im Herzen wußten wir alle es schon.
»Das Stück ist jetzt nicht mehr dasselbe wie zuvor«, sagte Straw. »Und auch wir sind nicht mehr dieselben. Die Rollen haben sich geändert.«
»Der Mönch konnte das Gesicht der Frau gar nicht gesehen haben«, sagte Tobias mit plötzlicher Lautstärke. »Das Ziegenhüten ist eine Arbeit, bei der einem rasch kalt wird; da hatte Nicholas recht. Die Frau hätte einen Schal oder eine Kapuze getragen.« Und er lächelte mich an und nickte, und wir waren wieder Freunde.
»Vielleicht hat der Mönch die Frau an ihrem Kleid erkannt«, sagte Springer.
»Das würde bedeuten, daß er sie zuvor schon gut kannte«, entgegnete Martin. »Wie gut kennt er sie, die Tochter eines armen Webers?«
»Und wie gut kennt sie ihn?« meinte Stephen.
»Ist das der Grund dafür, daß sie die Straße herunterkam?« sagte Springer. »Um den Mönch zu treffen und nicht den Jungen?«
»Ein Stück weiter weg, auf der anderen Straßenseite, wird der
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