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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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hätte verbergen können. Es war Stephen, als der Begleiter des Mönchs, der die Wende einleitete, und das war erstaunlich: War Stephen beim Debattieren mitunter auch widerborstig, so war gerade von ihm am wenigsten zu erwarten, daß er einem Stück eine neue Richtung gab, wenn man sich erst über Form und Inhalt geeinigt hatte. Vielleicht hallte auch der Ruf des Zuschauers, daß er ein Trottel sei, noch in Stephens Kopf wider, obwohl er dies niemals zugegeben hätte. Als er nun die Stimme erhob, sprach er in Reimen, wie wir alle, und diese Reime kamen uns leicht über die Lippen, ohne Stocken, ohne Zwang – wir waren besessen.
       Triumphierend hielt Martin die Geldbörse in die Höhe. Stephen machte die Geste des Bezeichnens in Richtung der Börse; eine Gebärde, die mit gänzlich ausgestrecktem Arm vollführt wird. Straw kauerte, von Schuld und Angst erfüllt, im hinteren Teil der Bühnenfläche. Ich selbst schließlich mußte hinter dem Vorhang hervortreten, weil ich dem Publikum eine Moralpredigt über die göttliche Gerechtigkeit halten sollte. Hinter mir, in der Maske der Pietas, kam Tobias und rang jammernd und klagend die Hände. Vor uns lag die Strohpuppe des Thomas Wells auf den nassen Pflastersteinen; seine weiße Maske war den Zuschauern zugekehrt, und seine Miene war ausdruckslos im Guten wie im Bösen. Plötzlich, ohne daß er es irgendwie angekündigt hätte, senkte Stephen den Arm, machte zwei Schritte auf das Publikum zu und sprach:
 »Wer weiß, warum, nach der grausen Tat,
     Sie das Geld nicht besser verborgen hat?«
    Als wären diese Worte geprobt worden, richtete Straw sich augenblicklich auf, nahm mit einer raschen Bewegung seine Maske ab und setzte ein starr blickendes Gesicht darunter auf:
 »Wer kennt die Lösung, der gebe uns Rat,
     Was den Mönch dorthin gebracht?«
    Pietas, hinter mir, hatte ihr Wehklagen derweil eingestellt. Augenblicke später sprach auch sie. Ich hörte das Beben in ihrer Stimme, und der deutlichere Klang verriet mir, daß auch Tobias seine Maske abgenommen hatte:
 »Er sah des Weibs Gesicht vor der Nacht.«
    Ohne daß wir uns zuvor abgesprochen hätten – und ohne daß uns so recht deutlich wurde, wie alles überhaupt zustande kam –, standen wir jetzt zu fünft nebeneinander, Aug’ in Aug’ mit dem Publikum; die Strohpuppe des Jungen lag vor uns. Ich spürte ein unruhiges Zittern in meinem Inneren, kämpfte es nieder und sagte:
 »In der Kälte muß das Gesicht man schützen,
     Bei Winters Frost wir Kapuzen benützen …«
    Ich sah die Reihen von Gesichtern direkt vor mir und auch die Gesichter derjenigen, die droben von der Galerie herunterschauten. Mein Blick war verschwommen, daß alle diese Gesichter miteinander verschmolzen, und von den Zuschauern drang Gemurmel an mein Ohr. Martin stand in der Mitte unserer Fünferreihe, zwei Mitspieler zu jeder Seite. Abermals streckte er die Börse empor und hielt sie mit der gleichen Geste des Triumphs in die Höhe wie zuvor. Nun aber gab es einen Unterschied, und dieser Unterschied war schrecklich, denn Martins Darstellung war gotteslästerlich. Er spielte die Szene, als wäre sie der Höhepunkt der heiligen Messe, und hielt die schwarze Börse mit gänzlich ausgestreckten Armen in die Höhe, als wäre sie die Hostie, und über das Murmeln der Zuschauer hinweg rief er:
 »Nur jene suchen, die zu finden hoffen,
     Ich wußt’, wo sie lag, und ich hab’s getroffen …« 
      Wir hatten das Stück mit einer Hinrichtungsszene beenden wollen, doch nun war uns allen klar, daß wir bereits jetzt am Ende des Stücks von Thomas Wells angelangt waren. Wir warteten noch einen Augenblick; dann setzten wir uns alle zugleich in Bewegung, entschwanden hinter dem Vorhang und blieben dort still und stumm stehen. Die Gesichter meiner Gefährten waren voller Entsetzen, als hätten sie eine Vision gehabt oder wären aus einem Alptraum erwacht, und gewiß sah auch mein Gesicht nicht anders aus. Der Vorhang, der uns verbarg, bot uns einen gewissen Schutz, obgleich er schon arg fadenscheinig war. Niemand kam, uns an Leib und Leben zu bedrohen. Allmählich verebbte der Lärm, als die Leute den Hof verließen. Dennoch blieben wir an Ort und Stelle, ohne uns zu rühren oder ein Wort zu sagen. Dieser Zustand der Lähmung wurde erst von Margaret beendet, die mit dem Geld erschien. Wir hatten zehn Shilling und sechseinhalb Pence eingenommen; keiner konnte sich erinnern, daß eine einzige Vorstellung je so viel eingebracht hätte.
     

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