Die Masken der Wahrheit
Geldbörse bei mir hatte? Hat ein böser Geist es ihr zugeflüstert? Hab’ ich mit der Börse gespielt, während ich meines Weges ging? Und hätte ich’s getan – hätte die Frau dann sehen können, was darin war? Von jener Stelle auf dem Gemeindegrund aus, an der sie am Ende eines düstren Wintertages stand?«
Stephen beugte seine große Gestalt nach vorn, um durch den Spalt im Vorhang zu spähen. »Er stolziert vor den Leuten hin und her und wirft die Börse in die Höhe«, sagte er in heiserem Flüsterton. Seine dunklen Augen sahen größer aus als üblich und traten noch deutlicher hervor.
»Geh hinaus und sprich zu ihm, Stephen«, sagte Martin, »bevor die Leute wieder unruhig werden. Sag irgendwas – was dir gerade einfällt. Dann werden Tobias und ich erscheinen und die Streitszene spielen.«
Stephen war kein besonders guter Schauspieler, doch er besaß eine seelische Robustheit, die ihm jetzt sehr zupaß kam. Er hatte seine Stimme und die Nerven vollkommen in der Gewalt, als er nun auf Springer zutrat. Selbst ohne das schmückende goldene Beiwerk des Herrgotts besaß er eine würdevolle Ausstrahlung, und das, obwohl er von Natur aus ein Haudegen war. »Thomas Wells, du hast damit geprahlt«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Du hast vor der Frau mit der Börse geprahlt …«
Wir hörten, wie Springer das krächzende Geräusch des falschen Gelächters von sich gab. Dann ertönte eine Stimme aus dem Publikum, eine Männerstimme, rauh und laut: »Du Trottel, wie soll die Frau nahe genug an ihn herangekommen sein, daß sie ihn hören konnte?« Nun aber traten Avaritia und Pietas nach vorn, die Frau zwischen sich. Sie schritten langsam hin und her, blieben dann und wann stehen, um ihre Verse zu sprechen, und gingen weiter. Für gewöhnlich wird der Kampf um die Seele in der Weise dargestellt, daß die Schauspieler an ein und derselben Stelle verharren und abwechselnd sprechen. Doch Martin hatte darauf bestanden, daß der Kampf um die Seele sich bewegter abspielte; zu diesem Zweck hatte er das Umhergehen und Stehenbleiben mit Tobias geübt.
So spielten wir einige Zeit weiter und machten alles genau so, wie wir es geprobt hatten. Doch wir waren nicht mehr dieselben, die wir bei der Probe gewesen waren … Straws Maskenwechsel war überaus erfolgreich und rief bei den Zuschauern größte Verblüffung hervor. Er vollzog den Wechsel hinter den Rücken von Avaritia und Pietas, die nach vorn kamen und vor dem Publikum Aufstellung nahmen, Seite an Seite, die Arme erhoben, so daß die Umhänge wie Vorhänge wirkten, weiß für die Tugend, schwarz für das Laster. Dann trat die eine nach links, die andere nach rechts, und die Frau mit der Dämonenmaske kam zum Vorschein. Sie hob die Hände, krümmte die Finger zu Krallen und zischte die Zuschauer an, wodurch gezeigt werden sollte, daß das Böse triumphiert hatte. Einige Leute zischten zurück. Die Sonnenmaske verbarg Straw an der Hüfte unter dem Gewand.
Das Erdrosseln des Thomas Wells wurde als Gebärdenspiel gezeigt, das Straw allein vor den Zuschauern aufführte, ohne den Jungen. Wir hatten uns hinter dem Vorhang flüsternd auf diese Art der Darstellung geeinigt. Martin wollte zwar an unserem ursprünglichen Plan festhalten, daß der Junge vor aller Augen erwürgt wurde; denn es war eine wirkungsvolle Szene, und das war für Martins fanatische Seele wichtiger als die Gefahr. Doch wir anderen waren dagegen – wir hatten keine Lust, die Leute ein zweites Mal gegen uns aufzubringen. Deshalb gingen wir sofort dazu über, die Strohpuppe des Thomas Wells zur Straße zurückzuschaffen, um gleich anschließend die Szene zu spielen, wie das Geld gefunden wurde.
Wider Erwarten kam diese Szene nicht besonders gut an. Manches wirkt beim Proben eindrucksvoller als bei der Aufführung. Martin, in der Rolle des Mönchs, gab sein Bestes; er suchte hier und suchte da und hielt die Börse triumphierend in die Höhe, als er sie endlich gefunden hatte, während Straw, noch immer mit seiner Dämonenmaske, bis an die Mauer zurückwich. Dennoch mangelte es dieser Szene an Wirkung; wir alle spürten es. Und was als nächstes geschah, war vielleicht darauf zurückzuführen, daß wir uns dieses Mangels bewußt waren und versuchten, ihn wettzumachen. Vielleicht lag es aber auch daran, daß Martin die Geldbörse im Ärmel verstecken mußte, bis sie gefunden wurde; denn in dem kärglich eingerichteten Zimmer gab es keinen anderen Ort, wo man sie
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