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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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doch er benutzte diese Begriffe nicht in ihrer üblichen Bedeutung. Er wollte ein Stück mit nachhaltigen Szenen, eines, das die Leute verstörte, aufrüttelte, so daß sie am Ende anders waren als zuvor. Macht dies ein wahres Schauspiel aus? Und er wollte Geld. Er zog uns auf seine Seite; aber uns für sich zu gewinnen war seine Rolle. Der Text, den er sprach, wurde ihm vorgegeben, wie auch uns anderen. Irgendeine Faszination der Macht brachte uns dazu, uns gleichsam selbst in dieses Stück von Thomas Wells einzusperren.

Kapitel zehn 
    uf getrennten Wegen gingen wir wieder hinaus in die Stadt. Keiner sagte den anderen, was er vorhatte. Ich begab mich zum Marktplatz, der vom Lärm der Hühner und Gänse und dem Geschrei fahrender Kesselflicker widerhallte, die ihre Waren anpriesen. Der Schnee zwischen den Ständen war zertrampelt und zerwühlt, und es waren gelbe Pinkelflecken darin und Stücke von Grünkohl und Möhren und ausgerupfte Federn. Der Himmel war klar und blaß; lockere Wolkenbäusche, die wie geschorene Schafwolle aussahen, trieben darüber hinweg. Ein Mann auf Stelzen stakste durch die Menschenmenge und rief, daß es im Badehaus der Stadt schönes, heißes Wasser gebe. Ein zerlumpter Kerl kniete im Schnee und jonglierte mit drei Messern.
       Ich sah den Bettler, der zu uns ans Feuer gekommen war und von verschwundenen Kindern gesprochen hatte. Ein Ei war von einem Stand heruntergefallen und am Boden zerbrochen, dort, wo der Schnee festgetreten war. Das Eigelb war über die Schneefläche verlaufen, und ein ausgemergelter Hund sah es zur gleichen Zeit wie der Bettler, und beide stürzten sich darauf, und der Bettler trat den Hund, der zwar jaulte und zurückwich, jedoch nicht das Weite suchte; denn der Hunger verlieh ihm Mut. Der Bettler bildete mit den Händen eine Kelle, schaufelte das Ei aus dem Schnee und steckte es sich in den Mund; dann aß er alles zusammen: das Ei, die zerbrochene Eierschale und den Schnee. Er sah, daß ich ihn beobachtete, und lächelte das gleiche Lächeln wie damals, wobei die Feuchtigkeit des Eies und des Schnees in seinem unschuldigen Gesicht glänzte. Ich mußte daran denken, daß er ziemlich viele Namen genannt hatte, als wären sie so etwas wie Lektionen, die er in der Schlichtheit seines Verstandes gelernt hatte. Ich trat zu ihm und fragte ihn, wie der Vater der Frau hieße. Er antwortete sofort, immer noch lächelnd: »Sein Name ist John Lambert, guter Herr. Der Vater von der Frau, die aufgehängt werden soll, heißt John Lambert.« Ich gab ihm einen Penny, und er wandte sich ab, wobei er die Münze fest in der linken Hand verschloß und ganz kurz die rechte hob, die er sich dann mit der gleichen Geste, die er schon damals vollführt hatte, vors Gesicht hielt, so als blende ihn ein helles Licht. »Könnt’ man die Frau zum Reden bringen, würd’ sie sagen, wo die anderen sind«, sagte er. Dann ging er mit schlurfenden Schritten fort, und ich verlor ihn in der Menge aus den Augen.
        Sie wohnt am Rand des Gemeindegrundes … Irgendeiner aus unserer Truppe hatte diese Worte gestern gesagt, als wir uns unterhalten hatten. Ihr Vater ist Weber … Wahrscheinlich, überlegte ich, war er an diesem Markttag nicht zu Hause; aber ganz ausschließen konnte ich die Möglichkeit nicht, ihn daheim anzutreffen, und ich hatte ohnehin keinen besseren Einfall. Allerdings war ein Besuch sinnlos, wenn ich mich dem Mann als Priester oder als Schauspieler zu erkennen gab. Dann aber kam mir der Gedanke, daß ich mich als ein Schreiber des Richters ausgeben konnte. Rein zufällig hatte ich mir beim Verlassen des Schuppens den schwarzen Umhang der Avaritia genommen und ihn mir umgelegt; denn er war das einzige Kleidungsstück gewesen, das übriggeblieben war und ein wenig Schutz gegen die Kälte bot. Außerdem trug ich den runden schwarzen Hut, den ich immer aufsetzte, wenn ich mich im Freien aufhielt, um meinen geschorenen Schädel zu verbergen.
       Ich verließ den Marktplatz, gelangte zu der Straße, die aus der Stadt hinausführte, und kam an der Wegkreuzung vorüber, an der uns am Abend zuvor die Berittenen den Weg versperrt hatten und wo ich den Richter mit seinem Gefolge hatte vorbeireiten sehen. Von hier aus führte ein Pfad in die Höhe, der um den Gemeindegrund herum verlief. Die Felder waren von einer geschlossenen Schneeschicht bedeckt. An den Hängen funkelten die Kristalle, während ich höherstieg. Die Rinde der Buchen, welche die Erhöhungen am Rand des Gemeindelandes

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