Die Masken der Wahrheit
Stimme, die das Reden gewöhnt war. Ohne den Blick von mir zu nehmen, wies er mit einer umfassenden Geste durch das schmucklose Zimmer. »Schaut Euch nur um, mein lieber junger Mann, den der Richter geschickt hat. Hättet Ihr Geld gestohlen und dafür sogar einen Menschen getötet – würdet Ihr es dann in Eurem eigenen Haus verstecken, wenn es ringsum überall Felder und Wälder gibt?«
»Aber die Geldbörse hätte sich auch hier gut verstecken lassen«, sagte ich. »Und weil sie Verdacht geschöpft hatten, sind sie hergekommen, um eine Durchsuchung vorzunehmen.«
»Sie sind hergekommen, um etwas zu finden«, sagte er. »Wie heißt Euer Herr, dieser Richter?«
Auf eine solche Frage war ich, der keinerlei Übung in solchen Dingen besaß, nicht gefaßt. »Stanton«, sagte ich – es war der erstbeste Name, der mir einfiel. »Sein Name ist William Stanton.« Die Pause war zu lang gewesen, doch der Mann ließ sich nicht anmerken, ob es ihm aufgefallen war. Er musterte mich genauso wie zuvor. Nur lag jetzt eine seltsame Distanz in seinem Blick – wie bei einem, der ein dahintreibendes Blatt betrachtet oder eine ungewöhnlich geformte Wolke am Himmel. Das beunruhigte mich, und ich machte einen Schnitzer. »Wo genau wurde das Geld gefunden?« fragte ich den Mann.
Er schwieg einen Augenblick; dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Das alles ist dem Sheriff des Lords bereits mitgeteilt worden – von diesem teuflischen Abschaum von Benediktiner. Der Richter kann ja die Niederschriften einsehen, wenn er’s möchte. Es ist nicht nötig, daß ein Mann durch den Schnee hierherkommt, um mir eine solche Frage zu stellen. Ihr scheint Euch des Namens Eures Herrn nicht sicher zu sein. Könnt Ihr mir den Namen des Mönchs nennen?«
Ich wußte keine Antwort darauf, schaute ihn nur stumm an.
»Simon Damian ist sein Name, und Gott wird ihn kennen am Jüngsten Tage«, sagte er. »Ihr seid nicht vom Richter geschickt, Bruder, hab’ ich recht?«
»Ja«, sagte ich, »Ihr habt recht.« »Gott enthüllt mir alle Lügen, weil er die Wahrheit selbst ist und in meinem Inneren wohnt«, sagte er in unverändertem Tonfall. »Die Kinder des Geistes haben Teil an Gottes Natur. Ich wußte von Anfang an, daß Ihr nicht seid, was Ihr zu sein vorgebt. Hätte ich’s für die Wahrheit gehalten, wären meine Lippen verschlossen geblieben.«
Ich setzte zu einer Erwiderung an, doch der Mann fiel mir ins Wort. »Zu jemandem, der von einem Richter kommt, würd’ ich kein Wort sagen«, erklärte er. »Die Richter sind wie die Priester, ein Höllengezücht, mordgierige Wölfe, die Schafe reißen und sich am Blut der Armen laben. Doch die Zeit wird kommen, da die Menschen sich ändern. Ich sage den Leuten, seid guten Mutes, handelt so, wie’s der kluge Säemann getan hat, der den Weizen in seine Scheuer sammelte, das Unkraut aber aus dem Boden riß und verbrannte.« Er schaute mich an, und in seinen blassen Augen war ein Leuchten. »Wir kennen dieses Unkraut«, sagte er. »Soll es sich bloß in acht nehmen. Soll es sich bloß hüten. Denn die Zeit der Ernte ist nahe.«
Ich war versucht, ihm zu offenbaren, daß ich ein Mann der Kirche war und deshalb besser wisse als er, wo der Herrgott seine Wohnstatt hat. Doch hätte ich’s getan, hätte er mich hinausgeworfen. Dennoch war ich nicht bereit, eine solche Ketzerei stillschweigend hinzunehmen. Und indem ich diesem Mann widersprach, würde ich mir in dem Zimmer gleichsam mehr Raum verschaffen; so jedenfalls schien es mir. Denn der Weber besaß, was der Schauspieler als starke Präsenz bezeichnet, und er nahm mir irgendwie die Luft.
»Es ist nicht an uns, darüber zu richten, wer dem Feuer übergeben werden soll«, sagte ich. »Gott ist der Richter, und er wohnt an einem anderen Ort. Bruder, Ihr habt mich nicht durchschaut, weil Gott in Euch wohnt, sondern weil ich nicht gut genug gelogen habe. Wäre ich ein besserer Lügner gewesen, hättet Ihr mir geglaubt.« Auf diese Weise stellte ich meine Falschheit in den Dienst Gottes und bekräftigte die vollkommene Absolutheit des Allmächtigen. Erst später wurde mir klar, daß ich besser daran getan hätte, Schweigen zu bewahren und meine Lügen zu bereuen. »Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist das Wesen des Menschen verderbt«, sagte ich. »Der Mensch mag erlöst werden, doch nirgends in seinem Inneren ist der Herrgott zu finden. Allein die heilige Kirche bringt uns Erlösung; einen anderen Weg gibt es
Weitere Kostenlose Bücher