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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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setzte er mich ins Bild. Im Gefängnis gab es einen Aufseher und zwei Wärter. Mit dem Wärter, der jetzt an der Reihe war, seinen Dienst zu tun, hatte Martin gesprochen, und der Mann war bereit, für einen Shilling eine Person einzulassen und ihr zu erlauben, die Zelle der Frau zu betreten und mit ihr zu sprechen, unter seiner Aufsicht. Und er werde niemandem etwas davon erzählen.
       »Auf diese letzte Zusage können wir uns verlassen«, sagte Martin.
       »Es würde ihn mehr als die Stellung kosten, wenn er den Mund aufmacht. «
       »Ein Shilling?« fragte ich. Das war der Wochenlohn eines Gefängniswärters. »Aus der Gemeinschaftskasse?«
       »Ja, ja, ein Shilling«, sagte Martin mit plötzlicher, zorniger Ungeduld. »Jetzt ist nicht die Zeit, um Pennies zu feilschen. Was soll ich denn tun? Dich losschicken, um alle zusammenzutrommeln und eine Abstimmung zu halten?«
       Am Rand des Marktplatzes blieb er stehen und wandte sich mir zu. »Waren wir uns denn nicht einig?« sagte er. »Wir alle haben beisammen gesessen, und jeder konnte in Ruhe seine Meinung sagen. Waren wir nicht übereingekommen, alle an einem Strang zu ziehen und mit ganzem Herzen daran zu arbeiten, aus dem Tod des Jungen das wahre Schauspiel zu machen?«
       Ich nickte, doch er hatte unrecht: So etwas wie eine Übereinkunft hatte es zwischen uns nicht gegeben. Gewiß, wir alle waren einer Meinung gewesen. Wir hatten uns auf diese Geschichte eingelassen – so, als hätten wir einen ummauerten Ort betreten und könnten nun die Tür nicht wiederfinden, die uns hinausführt.
       »Der Shilling ist gut angelegtes Geld«, sagte Martin. »Wir werden die Schilderung des Mädchens dafür bekommen.«
       Zur Straße hin war die Gefängnismauer kahl. Eine schmale Gasse lief an dieser Mauer entlang, und es gab Stufen, die hinauf zu einer dicken Tür führten. Über dem Türsturz befand sich ein in Stein gemeißeltes Wappen: ein liegender Leopard und darüber versetzt drei Tauben. Wir betätigten den eisernen Türklopfer und warteten, und einige Augenblicke später schaute uns durch das kleine Gitter, das in der Mitte der Tür angebracht war, das mürrische Gesicht des Wärters entgegen. Als er Martin sah, lächelte er und öffnete uns die Tür.
       Wir schritten einen Gang entlang und überquerten einen ummauerten Innenhof mit leeren Ställen auf der einen Seite und einer Sonnenuhr in der Mitte. Dann folgten weitere Gänge, bis wir schließlich zu einer Treppe gelangten, die in die Tiefe führte, zu den unterirdischen Kerkern, in denen die Gefangenen schmachteten. Als wir weitergingen, drangen von irgendwoher aus dem trüben Licht eine Stimme und das Rasseln von Ketten an unser Ohr.
       »Wer sind die Leute, die man hier gefangenhält?« fragte ich den Wärter. Dieser düstere, feuchte Ort rief Entsetzen in mir hervor.
       Der Wärter hob die Laterne und grinste uns an, so daß wir seine schadhaften Zähne sehen konnten. »Gäste des edlen Herrn de Guise«, sagte er. »Das hier ist sein Haus. Wir haben unter anderem zwei Burschen hier, die ohne Genehmigung des Barons seine Ländereien verlassen haben. So was kommt dieser Tage zwar alle Nase lang vor, doch Sir Richard gehört zu den Leuten, die dafür sorgen, daß die Gesetze beachtet werden. Wer irgendein Unrecht begangen hat, für den gibt’s bei unserm Herrn kein Entkommen. Die beiden Kerle hatten höhere Löhne verlangt, und als Sir Richard sie ihnen von Rechts wegen verweigerte, da haben sie sein Land verlassen, um für einen anderen zu arbeiten, der den höheren Lohn zahlen wollte. Da hat Seine Lordschaft Bewaffnete ausgeschickt, die beiden Kerle zurückzuholen.«
       »Und der Grundbesitzer, zu dem sie gegangen waren? Der Mann, der ihnen höhere Löhne bot? Was ist mit dem?«
       Der Wärter blieb dicht am Ende der Ganges stehen und spuckte auf die steinernen Bodenplatten. »Was sollte der schon tun?« sagte er voller Verachtung. »Ein alter Mann ohne Nachkommenschaft, mit hundert Hektar Land, einem Verwalter, einem Dutzend Bewaffneten … Sir Richards Mannen haben seine Waldungen verbrannt, um ihn zu lehren, anderen nicht wieder die Arbeitskräfte wegzuschnappen.«
       »Und so etwas haltet Ihr für gerecht?«
       Wieder spuckte der Wärter aus und musterte mich mit einem häßlichen Ausdruck. Er war ein kräftiger Bursche, und die Narben in seinem Gesicht rührten von alten Verwundungen her. Nur der Gedanke an seinen Shilling sorgte dafür, daß er uns gegenüber

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