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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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deutete.
       Martin machte die Gebärde für ›fleischliche Beziehungen‹, jedoch nicht die lebhafte, hektische Geste der Kopulation, sondern jene andere Gebärde, aus der auch ein Gefühl der Zuneigung spricht und die mit ineinander verschränkten, gerade ausgestreckten Fingern vollführt wird. Wieder kam es mir so vor, daß dies ein Zeichen war, das nur Schauspieler benutzen, denn die Frau kannte es nicht, was sie durch Stirnrunzeln und Winken mit den Händen anzeigte. Martin wiederholte das Zeichen, wobei er diesmal zusätzlich die Lippen wie zum Kuß vorstülpte. Die Frau machte eine äußerst heftige Geste des Verneinens – einen Schlag zur Seite, mit der flachen Hand geführt –, und ich sah ihre Augen blitzen; es mochte durchaus zutreffen, was ihr Vater gesagt hatte, daß sie nicht dem niedersten Geschöpf Gottes ein Leid zufügen konnte, doch in ihrem Inneren loderte ein Feuer des Zorns. Es sprach aus den Bewegungen ihres Körpers, aus dem plötzlichen Spreizen der Hände, mit denen sie irgend etwas von sich zu schieben schien, das unrein war; auf diese Weise zeigte sie ihre Abscheu vor dem Mönch. Martin und das Mädchen bewegten sich nun gemeinsam, ohne sich einander zu nähern; vielmehr besaßen ihre Schritte und Drehungen eine Art Gleichklang wie bei einem Tanz, wenngleich durch ihre Schatten an den Wänden ins Groteske verzerrt und begleitet von der Musik der Ketten und den unirdischen Lauten, welche die Frau von sich gab. Als sie bei diesem Tanz eine Drehung machte, konnte ich sie für einen Moment deutlicher sehen; sie besaß eine gewölbte Stirn, dunkle Augen und war von schlanker Gestalt, mit geraden Schultern – selbst an einem so scheußlichen und verwahrlosten Ort wie diesem bot sie einen wunderschönen Anblick. Dann verlor ich den Faden des stummen Gesprächs zwischen den beiden, denn ich war in dieser Zeichensprache nicht bewandert genug, und schließlich war es alles nur noch ein Schauspiel für mich, wie der Wärter es mir angekündigt hatte: die Kopfhaltung, die Handbewegungen, das Wiegen der Körper, die Pausen und das Huschen von Schatten im unsteten Licht.
       Auch die abschließenden Bewegungen verstand ich nicht, jedenfalls nicht damals. Die Frau streckte die Arme nach vorn, hielt sie eng aneinander und bot Martin die geöffneten Hände dar. Er trat auf sie zu, nahm ihre Hände in die seinen und betrachtete die Innenflächen. So standen beide für kurze Zeit zusammen; dann ließ Martin die Hände der Frau los, drehte sich um und kam zu uns herüber, jedoch mit unsicheren Bewegungen, wie einer, der zu lange ins Licht geblickt hat und nun den Weg vor sich nur noch undeutlich erkennen kann.
       Martin sagte kein Wort zu mir, weder im Gefängnis noch auf dem Rückweg zum Wirtshaus. Ich schaute ihm einige Male ins Gesicht, doch seine Miene war ausdruckslos. Die anderen, mit Ausnahme von Stephen, befanden sich bereits wieder im Hof des Wirtshauses. Inzwischen dämmerte es schon, und in einer Wolkenbank war der tiefstehende Mond zu sehen. Wir mußten darüber sprechen, was wir herausgefunden hatten, und die Änderungen unseres Stückes planen, und die Zeit dafür war kurz. Martin überraschte uns, indem er die gewohnte Ordnung durchbrach und als erster das Wort ergriff.
       »Sie ist unschuldig«, sagte er. »Bei der Entfernung und bei dem Licht … der Mönch kann ihr Gesicht unmöglich gesehen haben.« Auf seinem eigenen Gesicht lag ein Leuchten; es strahlte Entschlossenheit aus, so wie damals, als er sich für Brendan eingesetzt hatte, der gleichfalls stumm gewesen war. »Zum Schutz gegen das Wetter hat sie eine Kapuze getragen«, sagte er. Mit einer raschen Geste tat er so, als würde er sich eine solche über den Kopf und tief ins Gesicht ziehen, doch er tat es auf eine Weise, als würde er die Kapuze nicht zum Schutz gegen die Kälte aufsetzen, sondern aus Furcht vor Blindheit, weil irgendein wundervoller Anblick oder ein Glanz zu hell für seine Augen war, und ich erinnerte mich an die Gebärde, die der Bettler gemacht hatte, und wußte, daß Martin in Liebe zu dem Mädchen entflammt war; ihr Gesicht und ihre Gestalt standen noch immer vor seinem inneren Auge. »Sie sagt, sie sei niemals in der Nähe der Straße gewesen«, erklärte er.
       »Sagt?« Ich musterte ihn für einen Augenblick, ließ den Blick dann über die anderen in der Runde schweifen. »Das Mädchen kann weder hören noch sprechen«, fuhr ich fort. »Wir haben sie im Gefängnis besucht. Ihr Vater

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