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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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höflich blieb. Und nun verlangte er mit ausgestreckter Hand seine Bezahlung.
       »Wo ist die Frau?« fragte Martin.
       »Da hinten.« Mit ruckartigen Bewegungen des Daumens wies der Wärter zum Ende des Ganges, wo schwaches Licht auf die Steinplatten fiel. »In der letzten Zelle. Es ist Befehl ergangen, daß sie Licht haben darf …« Seine Hand schloß sich um den Shilling. »Jetzt könnt Ihr Euer Schwätzchen mit ihr halten«, sagte er, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ihr habt für das Vergnügen, Euer eigenes Gekrächze zu hören, tüchtig bezahlt.«
       Er ging ein paar Schritte vor und schloß die Tür mit einem schweren Schlüssel auf, der von seinem Gürtel baumelte. »Du«, sagte er zu mir, »bleibst hier draußen bei mir. Der da hat bezahlt, und ihm hab’ ich mein Wort gegeben. Aber wenn du Lust hast, kannst du hier von der Tür aus zuschauen.«
       Es hörte sich an, als sollte ich eine Vorführung zu sehen bekommen. In der Tür, etwa in Kopfhöhe, befand sich ein Schiebebrett. Martin betrat die Zelle, und die Tür wurde geschlossen, und ich beobachtete durch diese Öffnung, was im Inneren der Zelle vor sich ging. An einem Halter in der Wand steckte eine Kerzenlampe in einer Glasglocke und verbreitete ein fahles Licht. Die Zelle lag unterhalb der Straße; ich konnte das Brausen des Windes draußen hören, und durch das Gitter des hohen Fensters fuhren kleine Wolken wirbelnder Schneeflocken ins Zelleninnere und schwebten langsam ins Licht hinunter. Die Flamme der Lampe flackerte leicht, trotz der schützenden Glasglocke, und Schatten huschten über die Wände.
       Mit seinem leichten Schritt trat Martin ein Stück in die Zelle hinein. »Ich komme als Freund«, sagte er. Die Tochter des Webers wich bis zur Wand zurück, und ich hörte das Geräusch von scharrendem Metall auf Stein und sah, daß man sie an einem Fußknöchel angekettet hatte, wenngleich die Kette lang genug war, daß sie sich in der ganzen Zelle umherbewegen konnte.
       Wieder hörte ich Martins Stimme, die seinen Namen sagte, und dann kam von der Frau ein Laut, der nichts Menschliches besaß, und in diesem Augenblick wurde mir – und zweifellos auch Martin – klar, was das Lächeln des Wärters bedeutet hatte, als seine Finger sich um die Münze schlossen: Die Zunge der Frau konnte keine Wörter bilden.
       Ich sah, wie Martin sich zusammennahm und bewegungslos stehenblieb. »Könnt Ihr verstehen, was ich sage?« In seiner Stimme lag Freundlichkeit, aber kein Mitleid. Die Frau wandte sich ihm zu und hob den Kopf, und das Licht fiel auf ihre Schultern und ihr Gesicht und das dunkle Gewirr ihres Haares. Ihre Augen lagen im Schatten, doch ich sah das Funkeln darin. Ihr Mund war voll, aber nicht bäurisch, und ihre Lippen waren zart, selbst in all diesem Elend und Schmutz und sogar dann noch, als sie weitere jener fremdartigen Laute von sich gab, die ihre Kehle einzig herzuvorbringen vermochte und die sie selbst nicht hören konnte.
       Dicht an meiner Schulter vernahm ich das glucksende Lachen des Wärters. Martin versuchte nun, sich durch Gebärden verständlich zu machen, zunächst mit dem Schlangenzeichen, mit dem man ›Tonsur‹ und ›Bauch‹ bezeichnet; dann, indem er die Finger krümmte und das Zeichen für ›Geld‹ machte, und schließlich mit zwei raschen Schritten und den Drehbewegungen, mit denen man ›Suchen und Finden‹ verdeutlicht. Als er fertig war, nahm er eine fragende Haltung ein, den Kopf steif nach links geneigt, die rechte Hand in Höhe der Hüfte, mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger. Bei allen diesen Bewegungen wurde er von seinem eigenen buckligen Schatten an der Wand nachgeahmt.
       Die Frau antwortete mit schnellen Gesten – zu schnell und zu viele, als daß ich ihnen gänzlich zu folgen vermochte. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte und das Zeichen des Kreises machte – nicht das langsame, das ›Ewigkeit‹ bedeutet, sondern ein hastiges und wiederholtes, mit beiden Händen vollführt, wobei sie sich zuerst oben, dann unten treffen und sich dann wieder trennen. Ich kannte dieses Zeichen nicht; wahrscheinlich gehört es nicht zu denen, die zum Rüstzeug des Schauspielers zählen. Danach entfernte die Frau sich ein Stück von der Wand, und die Kette rasselte über den Steinfußboden. Einen Schritt vor Martin blieb sie stehen und schlug mit dem Zeigefinger der rechten Hand heftig auf den Handteller der linken, was ich als Zeichen für ›Ich sage die Wahrheit‹

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