Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
Vom Netzwerk:
die Menschheit.
       »Wo hat man mich ergriffen, wohin wurd’ ich gebracht?« sagte Springer. »Wer es weiß, der möge sprechen. Dort an der Straße, dort wurd’ ich nicht ermordet. Wohin hat er mich geführt, mir das Leben zu nehmen? «
       Ich sah, wie sich das Wissen um die Leiden des Thomas Wells, das zugleich das Wissen um Gut und Böse war, deutlicher auf Springers Gesicht abzeichnete. Für einen Augenblick hielt er inne; dann sagte er mit normaler Stimme, wobei er vergaß, den hohen Tonfall eines Kindes nachzuahmen: »Warum hat man mich ergriffen, wenn’s nicht der Börse wegen war?«
       Martin bewegte sich in die Mitte der Bühnenfläche. Sein Gesicht zeigte jenes Strahlen, das ich bereits kannte. Weit öffnete er die Arme:
 »Dieser schurkische Mönch, wohin ist er geeilt?
     Durch wessen Hand …« 
    Ob Martin die Absicht hatte, diese Frage selbst zu beantworten, oder ob er auf eine Antwort gewartet hätte, sollte ich nie erfahren. Denn er wurde durch einen gellenden Ruf mitten aus dem Publikum unterbrochen: »Der Mönch ist tot!«
       Ich blickte zur Seite und sah, daß Margaret rechts von mir stand, in der Nähe der Mauer. Sie war durch die Reihen der Zuschauer gekommen, ohne daß ich es bemerkt hatte, so sehr war meine Aufmerksamkeit auf unser Stück gerichtet gewesen. Sie winkte mir. Zur gleichen Zeit gewahrte ich einen Tumult bei den Leuten, die am Tor standen, wo sich die Menschen drängten.
       Margaret stand an dem Seil, das unsere Bühnenfläche auf jener Seite abgrenzte. Die übliche Bitterkeit in ihrem Gesicht war völlig verschwunden. Ihre Miene war voller Leben ob der Neuigkeit, die sie zu verkünden hatte. Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor, aber noch konnte ich nichts verstehen.
       »Er ist tot. Der Mönch ist tot«, sagte sie, als ich nahe genug bei ihr war. »Sie sind gerade mit ihm vorübergekommen. Jetzt stecken sie draußen vor dem Tor im Gedränge fest.«
       Die Bewegungen am anderen Ende des Hofes wurden heftiger, und ein Stimmengewirr drang von dort an mein Ohr; es waren zu viele Stimmen auf einmal, als daß ich die Worte hätte verstehen können. Margaret klammerte sich an meinem Arm fest, um nicht von den Leuten in unserer Nähe fortgerissen zu werden, die jetzt zurückdrängten, um zum Tor zu gelangen. »Ich hab’ jemanden erzählen hören, daß der Mönch gehängt worden ist«, sagte sie dicht an meinem Ohr.
       Wir blieben nahe beieinander und ließen uns von der Menge in Richtung Tor treiben. Es war offen, und die Straße draußen war voller Menschen, die aus dem Hof herausgequollen waren. Dies war auch der Grund dafür, daß den Pferden ein Weiterkommen unmöglich war. Nun standen wir mitten in der dicht zusammengedrängten Menge, während die Reiter ihre Tiere unter Kontrolle zu halten versuchten und fluchend auf die Leute einpeitschten, um einen Durchlaß zu erzwingen. Sie trugen die Kleidung von Bediensteten, doch war es nicht die Vasallentracht des hiesigen Lords. Zuerst konnte ich der Menschenmenge wegen nur die Oberkörper der Reiter sehen und die Köpfe und Hälse der Pferde. Doch als zwischen den Leibern plötzlich eine Lücke entstand, drängte ich mich nach vorn, und so konnte ich meinen ersten und letzten Blick auf Simon Damian werfen, wie er mit dem Gesicht nach unten quer über dem Rücken eines Maultiers lag. Ich sah seine blasse Kopfhaut, den Rand seiner Tonsur und seine baumelnden Hände, die der wechselnden Bewegungen des Maultiers wegen hin und her pendelten, kaum zwei Fuß über dem Boden, weiße Hände, wie Wachs im Fackelschein, mit dunklen Quetschspuren an den Handgelenken unterhalb der Ärmel seines hemdartigen Gewandes – er trug nicht sein Ordensgewand eines Benediktiners, sondern eines jener weißen Hemden, wie Büßer es überstreifen, wenn sie an einer Prozession teilnehmen.
       Wie lange ich dort stand und ihn so sah, weiß ich nicht. Es gibt flüchtige Anblicke, die für immer haften bleiben. Wenn ich heute die Augen schließe, sehe ich ihn noch so vor mir wie damals: den Haarkranz, die baumelnden Hände, das weiße Hemd. Nach normalen Maßstäben kann es in der Tat nur einen kurzen Augenblick gedauert haben, daß ich dort stand und starrte, bis die Reiter sich ihren Weg durch die Menge gebahnt hatten und das Maultier mit seiner Last weitertrottete und schließlich verschwand.
       Margaret war zur Seite abgedrängt worden, und ich konnte sie nirgends mehr sehen. Ich drehte mich um und hastete zurück in den

Weitere Kostenlose Bücher