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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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Hof. Doch ich schaffte es nicht auf Anhieb, zur Bühnenfläche durchzudringen, da ich ringsum von den Zuschauern eingekeilt war. Der Gezeitenfluß der Gefühle hatte sich verändert, und damit auch die Stimmen des Publikums. Jetzt wurden Rufe laut, die gegen die Schauspieler gerichtet waren, weil diese den Leuten nicht das wahre Schauspiel vorgeführt, sondern ihrer Stadt Unglück und Tod gebracht hatten. Da ich mitten in der Menge stand, hatte ich Angst, doch in der Nähe des Tores standen die Leiber so dicht gepreßt, daß die Leute mich vermutlich gar nicht beachteten oder nicht erkannten, wer ich war. Aller Augen waren auf die Schauspieler gerichtet, die noch wie erstarrt zwischen den Fackeln auf der Bühnenfläche standen. Und für einige Augenblicke, bevor die kühle Vernunft wieder die Oberhand gewann, teilte ich mit den Zuschauern die Wut auf die Schauspieler; jenen Zorn, der sich wie ein jäher Sturm erhoben hatte, als der tote Mönch auf dem Rücken des Maultiers am Tor vorübergekommen war. Ich war kein Schauspieler mehr, sondern gehörte zur wütenden Menge, und ich rief und schrie vor Angst und Zorn mit den anderen. Irgend jemand schleuderte einen Stein – ich sah, wie er gegen die Mauer prallte. Den armen Springer verließ nun doch der Mut, und er fiel auf die Knie. Mein Verstand wurde wieder klar, als ich dies sah, und ich erkannte, daß die einzige Möglichkeit, uns selbst zu retten, darin bestand, das Schauspiel zu retten.
       Ich drängte mich weiter nach vorn, so gut ich konnte. Ich hörte – oder glaubte zu hören –, wie jemand rief: »Da ist einer von ihnen! Da ist der Priester!« Dann löste Martin sich aus seiner Starre, trat nach vorn bis ans Seil – nahe genug, um die vorderste Reihe der Zuschauer zu berühren – und hob die Arme in der Geste eines Mannes, der sich ergibt. Mein Herz hüpfte aus Bewunderung für seinen Mut und seine Klugheit, sich auf diese Weise der Gewalt darzubieten und sie entweder auf sich zu ziehen oder zu entwaffnen.
       Er rief etwas, und zuerst waren seine Worte nicht zu verstehen; dann aber verebbte der Lärm des Publikums, und wir hörten ihn rufen: »Wartet! Der Mönch ist tot, aber unser Stück ist es nicht!«
       Wieder schwoll das Geschrei der Menge an wie eine Woge; die Leute waren nicht beschwichtigt. Die Arme noch immer erhoben, brüllte Martin gegen das Geschrei an: »Wir haben es gewußt! Wir wußten, daß der Tod ihn heute abend holt!«
       Diese Lüge war unsere Rettung. Das Geschrei erstarb; nur noch Gemurmel war zu vernehmen. Langsam senkte Martin die Arme, bis sie an den Seiten herabhingen; in dieser Haltung verharrte er für einige Augenblicke. Auch diese Stille verlangte Mut, und sie ließ das Pendel der Zuschauerstimmung stärker zu unseren Gunsten ausschlagen, als irgendeine Gebärde es bewirkt hätte. »Tut den armen Schauspielern nichts an«, sagte Martin schließlich. »Daß ihr zufrieden seid, ist unser einziger Wunsch. Laßt uns das Stück von Thomas Wells zu Ende spielen.«
       Springer hatte sich inzwischen aufgerappelt, und nun umstanden die Schauspieler Martin im Halbkreis, so bewegungslos wie er selbst. Ohne von irgend jemandem behindert zu werden, gelangte ich durch die Menge hindurch zur Bühne. Mir war ein Gedanke gekommen. Schauspiele können durch Auftritte gerettet werden. Ich war noch immer der Gute Rat, und zusammen mit meiner Predigt über die Gerechtigkeit Gottes würde ich Kunde vom Tod in das Schauspiel bringen.
       Und das tat ich denn auch, und indem ich die Worte fand, besiegte ich die Angst. Ich schritt von der einen Seite zur anderen, zwischen den Schauspielern und Zuschauern hindurch, und sagte langsam und mit feierlicher, ernster Gebärde: »Jetzt wird der Mönch, so wie’s uns allen dereinst ergehen wird, auf einen anderen Weg geschickt, um Rechenschaft abzulegen vor jenem Richter, den man nicht täuschen kann. Jetzt werden schöne Worte ihm nichts nützen; denn er steht nicht vor einem unwissenden Knaben, der ihm in der Dunkelheit eines Wintertages lauscht. Vor diesem Richterstuhl gibt’s keine Finsternis, nur unermeßliches Licht …«
       Ich hörte, wie die Stille sich über das Publikum senkte, und wußte, daß ich meinen Teil dazu beigetragen hatte, das Stück zu retten, wenngleich ich nicht mehr sagen konnte, in welche Richtung wir uns nun bewegten. Ich schritt weiter hin und her und predigte, damit die anderen Zeit hatten, wieder zu klarem Verstand zu kommen und weiter an der Aufführung

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