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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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und mit der goldenen Krone zwischen den Lichtern hin und her schritt. Ursprünglich hatte auch er seine goldene Maske tragen wollen, was uns anderen jedoch als unpassend erschienen war, da sie zu seiner Rolle als Gottvater gehörte. So hatte er sich statt dessen das Gesicht mit einer dünnen Schicht silberner Schminke bemalt. In der rechten Hand hielt er einen geschälten Weidenstab, so lang wie er selbst. Was zu diesem Zeitpunkt außer Margaret keiner von uns wußte: Stephen hatte noch mehr Bier getrunken, als er das Stück ausgerufen hatte, und jetzt war er ziemlich benebelt.
       Die ersten sichtbaren Anzeichen seines Rausches ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Stephen hätte weiterhin vor den Augen des Publikums hin und her schreiten sollen, während die Frau und Avaritia aus dem Licht entschwanden und Tobias die Gelegenheit hatte, die Maske und den Umhang der Pietas gegen die Haube der Menschheit einzutauschen und dann erneut zu erscheinen – bereit, sich befragen zu lassen. Doch Stephen schritt nicht lange genug auf und ab, als daß dafür Zeit genug gewesen wäre. Plötzlich blieb er mitten auf der Bühne stehen und hob, Aufmerksamkeit gebietend, seinen Stab, so daß Tobias mit mir hinter dem Vorhang warten mußte, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, herauszutreten. Immerhin erinnerte Stephen sich an seinen Text, und ohne zu stocken, begann er:
 »Ich bin die Wahrheit, wie Ihr seht,
     Zu Euch geeilt und nicht zu spät,
     Gesandt von Gottes Majestät …«
    Nun allerdings trat eine beunruhigende Pause ein. Da Stephen niemanden sah, dem er seine Fragen hätte stellen können, machte er mit seinem Stab eine unbestimmte Geste des Herbeiwinkens. »Wo ist die Menschheit?« wollte er wissen. Es war eine unkluge Frage, weil sie zotige Bemerkungen geradezu herausforderte. Doch es kam keine, so groß war nunmehr die Aufmerksamkeit des Publikums. »Ich muß der Menschheit ein paar Fragen stellen«, sagte Stephen, wobei er noch immer gestikulierte.
       Tobias trat rasch nach vorn, das Gesicht von der Kapuze beschattet: »Ich heiße Menschheit. Mit einem Körper und einer Seele bin ich erschaffen …«
       Mit der linken Hand machte Stephen eine Gebärde, mit der er der Menschheit bedeutete, näher heranzutreten. »Gutes Geschöpf, wisse, daß ich die Wahrheit bin«, sagte er. »Erzähl uns jetzt – wo wurde der Knabe ermordet, und wo ward er gefunden? Sprich frei heraus und hab keine Furcht! Die Wahrheit ist dein Schutz und dein Schild.«
       »Am Straßenrand, so hab’ ich sagen hören.«
       Wieder trat eine Pause ein, die nicht vorgesehen war. Stephen nickte mit feierlichem Ernst und hob seinen Stab. Uns war klar, daß er den Faden des Dialogs verloren hatte, was die Zuschauer zum Glück nicht sogleich merkten; sie hielten sein Schweigen für ein Zeichen von Würde. Tobias half ihm auf die Sprünge: »Zwischen dem Mord und dem Auffinden der Leiche lag das Dunkel der Nacht …«
       Stephens Gestalt straffte sich. Er hatte den Satz wiedererkannt: »Hab keine Furcht, gutes Geschöpf, und sag uns: Wo lag Thomas Wells zwischen dem Mord und dem Auffinden der Leiche?«
       Die Menschheit bewegte sich jetzt weiter nach vorn, sprach direkt zu den Leuten und vollführte zugleich die Geste, mit der selbstverständliche Feststellungen begleitet werden: die Arme nach vorn gestreckt, die Handflächen nach oben gekehrt, als würde man prüfen, ob es regnet; sodann werden die Arme schnell nach außen bewegt, fort vom Körper. »Wohl denn, liebe Freunde, das ist keine schwere Frage. Neben der Straße lag er.«
       Nun meldete sich zum erstenmal Thomas Wells zu Wort, und auch er richtete sich direkt an die Zuschauer; wie vorher zwischen uns abgesprochen, sprach er mit seiner eigenen Stimme und redete ohne irgendwelche Gesten oder rhetorische Untermalungen: »Liebe Leute, das kann nicht sein. Ich muß woanders gelegen haben. Hätt’ ich die ganze Nacht an der Straße gelegen, so wäre der Frost an mir gewesen. Das aber war nicht so. Wir wissen’s von dem Manne, der mich gefunden hat.«
       Irgendwo auf dem hinteren Teil des Hofes erklangen Stimmen, und dann rief ein Mann: »Jack Flint ist hier. Er ist ein ruhiger Bursche und möchte, daß ich für ihn rede. Ich soll euch sagen, daß es stimmt, was er da erzählt.«
       Lautes Stimmengewirr setzte ein, verstummte aber rasch, und wieder breitete sich Schweigen im Publikum aus. Auch wir schwiegen für den Moment; denn nachdem die Wahrheit diese

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