Die Masken der Wahrheit
Fragen gestellt hatte, wußte sie nicht weiter. Da Stephen nichts Besseres einfiel, suchte er nach einigen Augenblicken der Stille wieder Zuflucht in einem Text, an den er sich erinnerte:
»Die Wahrheit gibt nichts auf Gold und Geld,
Nichts auf die Macht aller Fürsten der Welt …«
Unsere Aufführung hätte an dieser Stelle mit einem Fehlschlag enden können, wäre da nicht Martin mit seiner Geistesgegenwart gewesen. Doch eben diese Geistesgegenwart beflügelte uns nicht nur – sie verriet uns auch und brachte uns alle in Lebensgefahr. Noch immer im schwarzen Umhang und der gräßlichen Maske der Avaritia, trat Martin vor ins Licht. Ganz kurz, als wollte er lediglich eine Pause ankündigen, hob er die Hand in der Geste, die ›Themenwechsel‹ bedeutet. Dann sagte er – zu uns und den im Hof versammelten Zuschauern:
»Was will die Habsucht hier, an diesem Ort,
Wo eines Schurken Hand beging den Mord,
War es doch nicht um Geld noch um Gewinn,
Drum, Habsucht, ich von dir geschieden bin …«
Während er sprach, öffnete er den Verschluß seines Umhangs und ließ ihn zu Boden fallen. Mit beiden Händen und in langsamer Bewegung nahm er die Maske vom Gesicht, ließ sie bis in Hüfthöhe sinken und schleuderte sie dann mit einer Bewegung von sich, als wäre sie eine Wurfscheibe. Das alles kam für uns völlig unerwartet. Es war nie geprobt worden, ja, wir hatten nicht einmal darüber gesprochen, und nun geschah dies alles beinahe ohne Vorwarnung. Ich glaube, Martin wollte uns und das Publikum absichtlich erschrecken, damit wir nicht mehr so sehr darauf achteten, was wir sagten. Jedenfalls hatte sein Tun genau diese Wirkung.
Nun machte er eine lange Pause, in der er sich als einfacher Mann zeigte. Dann blickte er zu Stephen hinüber und vollführte eine höfliche Verbeugung:
»Wie kam dies Kind dorthin? O Wahrheit, ist bekannt,
Wie’s kam, daß dies fünfte Kind man fand?«
Eine wahrhaft erschreckende Stille lag jetzt über dem Hof des Wirtshauses und der Galerie darüber. Stephen, vom Bier benebelt und von Natur aus ohnedies schwer von Begriff – was bei ihm allerdings den Schock der Überraschung minderte –, wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Langsam drehte er sein silbern bemaltes Gesicht von Seite zu Seite. »Die Wahrheit fürchtet niemanden«, sagte er schließlich. »Vier andere hat’s gegeben, soviel ist sicher. Erzählt hat’s mir der Totengräber. Christopher Hobbs heißt er.« Sagte es und verfiel in Schweigen.
Springer jedoch besaß ein anderes Naturell als Stephen. Wieder bemerkte ich, wie seine Brust sich rasch hob und senkte, als er versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Er hob die rechte Hand und krümmte die Finger, als würde er etwas darin halten, und drehte sie in Richtung seines Gesichts. »Ich trug eine Geldbörse bei mir«, sagte er mit hoher Stimme, damit sie wie die eines Kindes klang. »Das ist der Unterschied, Ihr lieben Leute. Das ist der Grund dafür, daß man das fünfte Kind gefunden hat. Doch war’s nicht der Börse wegen, daß ich ermordet wurde. Vielmehr war die Börse der Grund dafür, daß man mich fand – denn mein Mörder wollte, daß man den Weber für den Schuldigen hielt.«
Straw trat vor. Er hatte die Mördermaske abgenommen, trug aber noch immer die flachsfarbene Perücke. Mit Bewegungen des Kopfes und der Hände machte er deutlich, daß er nun eine stumme Person darstellte. Dann wandte er sich mit einer bittenden Geste an die Menschheit, die ebenfalls den Kopf entblößt und ihre Kapuze nach hinten geschoben hatte. Wir waren jetzt alle ohne Masken – die Rollen, die wir spielten, veränderten, wandelten sich.
»Der Weber war nicht daheim«, sagte Tobias. »Deshalb nahmen die Häscher seine Tochter mit.« Er machte eine Pause; dann sagte er in deklamierendem Tonfall: »Der die Tochter nahm, fand das Geld; der das Geld fand, traf den Knaben.«
»Wir sind uns auf der Straße begegnet«, sagte Thomas Wells mit seiner piepsigen Stimme.
Ich stand an der Seite, außerhalb des Lichts, und wartete darauf, vorzutreten und eine Predigt über die Gerechtigkeit Gottes zu halten, der die Gottlosen niederschmettert, und sie sind nicht mehr, vertit impios et non sunt . Das Herz schlug mir bis zum Halse. Mir schien, daß ich auf den Gesichtern der anderen ein Frohlocken sehen konnte, aber auch Qual, als sehnten sie sich nach Erlösung.
»Wer dem Knaben begegnet ist, hat die Tat begangen«, sagte
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