Die Masken der Wahrheit
Vielleicht hatten wir den Zielen und Zwecken des Todes jetzt hinreichend gedient, und das Schauspiel brauchte nicht noch einmal aufgeführt zu werden. Das hofften wir jedenfalls von ganzem Herzen. Gestern, vor dem Einschlafen, hatten wir noch flüsternd beschlossen, dem Baron und seinen Gästen den Vorschlag zu unterbreiten, ihnen das Stück von Christi Geburt und vom Zorn des Herodes zu spielen, da es zur Weihnachtszeit paßte – in der Hoffnung, daß man uns genug Zeit für die Vorbereitungen gab. Aber dabei machten wir uns natürlich nur selbst etwas vor. Die Angst ist der Schutzpatron all je ner, die sich selbst betrügen, doch oft erscheint sie in Verkleidung. Ich wußte zwar nicht, was uns erwartete, während ich dalag und das erste Licht des Tages durch die Ritzen im Fensterflügel fiel, aber ich wußte: Was auch geschehen mochte – es geschah nicht auf unser Geheiß und nicht um unsertwillen. Mir fielen die letzten Worte ein, die wir in unserem Stück von Thomas Wells gesprochen hatten: Er war der Beichtvater des Barons. Er hat dem edlen Herrn gedient. Das waren keine Worte, mit denen man ein Schauspiel beendete …
Wir hörten das Horn des Wächters, das den Sonnenaufgang verkündete, und bald darauf brachte ein Mann uns Brot und Mehlsuppe, wofür wir dankbar waren, denn wir hatten seit dem Mittag des vergangenen Tages nichts mehr gegessen. Die Tür unseres Gemachs wurde nicht verschlossen. Draußen befand sich ein kurzer Gang, der zur einen Seite vor einer Wand endete, zur anderen eine Nische aufwies, in der sich ein Abort befand; dahinter war eine dicke, fest verschlossene Tür. Somit gab es auf dieser Seite kein Herauskommen, sofern einem nicht jemand die verschlossene Tür aufsperrte. Und das Fenster unseres Gemachs befand sich hoch an der Mauerwand, die draußen steil abfiel.
Mit dem ersten Licht des Tages hörten wir unten im Hof das Klingen von Hämmern und das Rufen von Stimmen; die Vorbereitungen für den heutigen Turniertag wurden getroffen. Die Geräusche begleiteten unsere Gespräche – wir hatten früh damit begonnen, uns über die Stücke zu unterhalten, die wir vor dem Baron und seinen Leuten aufführen wollten; wir verteilten die Rollen und einigten uns darauf, wann die Tanz- und Gesangseinlagen stattfinden sollten; letztere waren bei weihnachtlichen Aufführungen von besonderer Wichtigkeit. Keiner von uns sprach über Thomas Wells, obwohl die Stücke, die wir spielen wollten, die Geburt eines und den Tod vieler Kinder behandelten. Doch indem wir Thomas Wells’ Namen nicht nannten und auch sonst nichts sagten, was irgendwie mit ihm zu tun hatte, versuchten wir zu leugnen, daß Gefahr für unser Leib und Leben bestand, obwohl wir alle es wußten; wir versuchten, nicht daran zu denken, was geschehen war – daß man unsere Aufführung gewaltsam unterbrochen und uns ergriffen und hierher geschafft hatte.
Stephen tat gar so, als wäre die rüde Hast unserer Häscher ein Grund zur Selbstzufriedenheit. »Es ist doch klar, daß unser Ruhm sich verbreitet hat«, sagte er. »Die Männer wollten sich unserer Dienste versichern, bevor wir die Stadt verlassen.« Er schaute uns an und nickte bedächtig. Seine Augen waren blutunterlaufen – entweder vom Trinken oder von seinen Gefühlsaufwallungen am Abend zuvor, als seine Tränen sich mit der silbernen Schminke auf seinem Gesicht vermischt hatten. »Sie haben uns eine Ehre erwiesen«, sagte er.
»Ja, genau«, sagte Springer, der sich begierig auf alles stürzte, das ihm seine Ängste nehmen konnte. »Man hat den Männern gesagt, sie sollen uns holen. Und sie sind nun mal derbe Soldaten, die bei allem, was sie tun, recht unsanft vorgehen.«
Tobias schüttelte den Kopf. Er war noch immer die Menschheit und kleidete in Worte, was alle dachten. »Eine merkwürdige Art der Ehrung «, sagte er. »Meinst du, man hätte uns auch dann auf diese Weise geehrt, wenn wir beim Stück von Adam geblieben wären?«
An dieser Stelle unterbrach uns ein Stoß aus mehreren Fanfaren, der vom Hof heraufklang, und wir drängten zum Fenster und stießen es auf, um hinunterzublicken, nur Martin nicht – er blieb, wo er war, saß mit dem Rücken zur Wand und starrte gedankenverloren vor sich hin. Weiße Tauben, von den Fanfaren aufgescheucht, flatterten mit wildem Flügelschlag an uns vorbei in die Höhe und flogen wie ein einziger, großer Vogelkörper im Kreis über dem Burghof, als würde man sie allesamt in einer leeren Schüssel
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