Die Masken der Wahrheit
grausamen und verzerrten Mund der Maske, langsam, bedächtig, mit stählernem Beiklang: Es war die Stimme des Barons. Ich blickte zu den anderen hinüber, die bewegungslos und starr dort standen, weil sie keine Rollen mehr hatten, die sie spielen konnten. Straw und Springer waren näher zusammengerückt und hielten sich bei den Händen. Und nun sprach wieder Superbia, und wieder mit der geliehenen Stimme.
»Was kümmert mich ein einziger toter Knabe, oder fünf, oder fünfzehn, wenn ich nur meinen Namen und meinen Rang behalte? Der Hochmut war’s, der Gericht hielt, der den Knaben im Dunkel der Nacht begrub, der den verräterischen Mönch in seinem Büßerhemd erhängte …«
Jetzt war es mehr als nur die Stimme. Als ich von der Maske der Superbia zum Gesicht des sitzenden Mannes blickte, erschien es meinem verwirrten Verstand und meinen fiebernden Augen, daß sie einander immer ähnlicher wurden, bis es im flackernden Licht des Gemachs nur noch ein Gesicht gab: das der Maske mit ihrem höhnisch verzerrten Mund, den vorquellenden Augen und den wulstigen Brauen.
Diese Verwirrung machte den Schrecken noch schlimmer. In seinem Wahn hatte Martin es gewagt, den Richter im Schatten des Richterstuhles zu verhöhnen, sich vor diesem Edelmann zu spreizen und dessen Stimme nachzuahmen – jenes Edelmannes, dem wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Schon die Beleidigung als solche war tödlich. Doch es war mehr als nur eine Beleidigung. Es war eine Anklage, die aus drei Punkten bestand, und falls die Beschuldigungen der Wahrheit entsprachen, ließen sie nach den Gesetzen der Logik nur einen Schluß zu: Richard de Guise hatte nicht gewollt, daß die Leiche von Thomas Wells gesehen wurde, weil sie irgendwelche Spuren aufwies – und dies wußte der Baron, und er wußte es, weil Simon Damian ihm den Knaben lebend in die Hände gegeben hatte.
Ich weiß nicht, wie lange wir noch hätten fortfahren dürfen. Ich sah, wie Tobias, der als der Stärkste von uns galt und dies jetzt auch bewies, sich rührte und einen Schritt nach vorn trat, gleichsam zurück ins Stück, so daß Martin ihn sehen konnte, und wie Tobias die Hand hob in der Geste des Tadels, die auf die gleiche Weise vollführt wird wie die Gebärde fürs Hörneraufsetzen, nur daß die Hand beim Zeichen für den Tadel so gehalten wird, daß die Finger nach vorn zeigen. Ich glaube, selbst jetzt noch hätte er versucht, die Katastrophe abzuwenden, indem er den Stolz seiner Anmaßung wegen schalt, doch bevor er etwas sagen konnte, entstand Unruhe an der Tür, und mit schnellen Schritten trat eine junge Frau ins Gemach. Sie war barhäuptig und trug einen dunklen Umhang über ihrem Abendgewand aus hellblauer Seide.
Als sie uns sah, stockte sie. Zweifellos boten wir in dem stillen Gemach einen sonderbaren Anblick. Noch immer vollführte der Hochmut seine Schwimmbewegungen, während Tobias einen Arm starr in Martins Richtung ausstreckte und wir anderen immer noch wie vom Donner gerührt dastanden. Dann kam die Frau bis zur Seite des Stuhls vor, auf dem der Baron saß, der eine abrupte Geste machte, worauf wir unser Spiel unterbrachen.
»Verzeiht, daß ich Euch störe, Vater«, sagte sie. »Ich wußte nicht, wohin man die Schauspieler gebracht hatte. Dem Herrn Roger von Yarm, der heute verwundet wurde, geht es sehr schlecht; er wird den Morgen nicht erleben. Und der Kaplan, der ihm die letzte Ölung spenden könnte, ist nirgends zu finden.«
Der Verwalter war zur Seite getreten, um dem Mädchen Platz zu machen, und der Baron drehte sich nun auf dem Stuhl zu ihr um. Wir nutzten die Gelegenheit, Martin vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen. Straw bedeutete ihm, er solle die Maske abnehmen, doch er machte keine Anstalten.
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte der Baron mit einer Stimme, die nicht so kalt klang wie vorhin, als er zu uns gesprochen hatte. »Aber ich weiß nicht, warum du gekommen bist, mir das jetzt zu sagen, wo ich hier beschäftigt bin.«
»Mutter hat mich geschickt«, sagte das Mädchen. »Sie hat von einer Dienerin gehört, daß einer der Schauspieler Priester sei. Vielleicht ist es der dort, der wie ein Gottesmann gekleidet ist.«
Die Augen des Vaters und der Tochter ruhten jetzt auf mir. Dann sagte der Baron irgend etwas zu seinem Verwalter, der darauf einen Finger krümmte und mich herbeiwinkte. Ich ging zu ihm und trat vor den Stuhl. Nun befand ich mich außerhalb der Bühnenfläche; ich war Nicholas
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