Die Masken des Morpheus
ihnen weitere Schwierigkeiten ersparte. Der Hund wurde an die Leine gelegt und ebenfalls mitgenommen.
Nun endlich passierten sie die Zollmauer von Paris. Bis vor Kurzem hatte die zwei Manneslängen hohe Barriere zur Abwehr von Schmugglern sowie zur Erhebung von Einlasszöllen und anderen Steuern gedient. Die neuen Machthaber hatten dem ein Ende gesetzt, das Tor war unbewacht.
In fast ländlicher Idylle ging es in ostwestlicher Richtung weiter durch das 11. Arrondissement – wie man in Paris die Stadtviertel nannte. An der berühmt-berüchtigten Bastille gelangten sie in das alte Zentrum der Metropole. Von der im 14. Jahrhundert errichteten Stadttorburg, die Richelieu in ein Staatsgefängnis umgewandelt hatte, war kaum noch etwas zu sehen. Außer einem kniehohen Mauerrest hatten die Revolutionäre sie vollständig geschleift. Arian wurde auf einmal sehr nachdenklich.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Mira, die neben ihm ritt. Sie war ihm gegenüber nicht mehr ganz so zurückhaltend wie nach dem Streit auf Phobetor.
Er deutete auf die kläglichen Überreste des Bollwerks zur Linken. »Als ich die Bastille zuletzt sah, war ich noch ein Kind. Ich dachte, ihre acht Zinnentürme würden jedem Angriff trotzen. So kann man sich irren.«
»Der Sturm auf die Bastille ist nur eine Legende, Arian.«
»Wie bitte?«
»Mein Vater erzählte mir, wie es tatsächlich war. Gekämpft wurde hier am 14. Juli 1789 kaum. Der Kommandant, Gouverneur de Launay, hat die Festung den Aufständischen nach nur siebenstündiger Belagerung freiwillig übergeben. Man versprach ihm sicheres Geleit zum Hôtel de Ville. Kurz bevor er das Rathaus erreichte, wurde er dann im Gedränge der aufgebrachten Menge von einem Bajonettstich und einem Schuss getötet. Ein wütender Koch hat ihm den Kopf abgeschnitten und ihn auf einer Pike durch die Straßen getragen. Danach gab er ihn bei einem Wächter des Kriminalgerichts ab und ließ sich dafür eine Quittung ausstellen.«
»Der arme Mann. Und was für ein jämmerliches Ende für eine so stolze Festung!«
Sie zuckte die Achseln. »Ist nicht schade drum. Was ist das für ein Zuchthaus, in dem die Gefangenen nicht einmal auf ihre eigenen Möbel, Bediensteten und Mahlzeiten verzichten müssen? Obendrein bekamen sie vom König Pensionen, damit die Wachen Besorgungen für sie machen konnten. Einige haben sich sogar ihre Weinvorräte und Bibliotheken in die Bastille nachkommen lassen.«
»Vielleicht ein kleiner Trost für das erlittene Unrecht. Soweit ich weiß, genügte schon ein Schreiben mit dem Siegel des Königs, um eine missliebige Person einzusperren. Und ohne so ein Papier kam man auch nicht wieder frei.«
»Du meinst die lettres de cachet ? Die sind blanke Willkür gewesen.«
»Damit ist ja nun Schluss.«
Sie schnaubte. »Schön wär’s! Wie würdest du über ein Scheusal wie den Marquis de Sade urteilen, der fünf kleine Mädchen mit Knüppeln, Peitschen und Messern gequält hat?«
»In England wird man schon für Bagatellen aufgehängt.«
»Und in Frankreich normalerweise auch. Der Erste, den man überhaupt mit der Guillotine hingerichtet hat, dieser Nicolas-Jacques Pelletier, war ein Dieb und Schläger. De Sade – er hatte durch ein Ofenrohr um Hilfe geschrien, als die Rebellen kamen – verlegte man nach der Übergabe der Bastille nur in ein Tollhaus. Kurz darauf haben die Revolutionäre ihn freigelassen und zum Richter gemacht. Das musst du dir mal auf der Zunge zergehen lassen, Arian: zum Richter. Wie du siehst, genügt es nicht, ein Bollwerk zu schleifen, wenn man die Mauern in den Köpfen stehen lässt.«
Ikela, die mit Tarin vorausritt, drehte sich um und legte den Finger auf die Lippen. »Nicht so laut ihr zwei. Oder wollt ihr, dass man euch für Volksfeinde hält?«
Arian erschauerte. Erst jetzt ging ihm auf, dass sie ins Herz der Grande Terreur – des großen Schreckens – vorgestoßen waren, und er wurde für lange Zeit sehr schweigsam. Unterdessen gelangte der Tross ins Stadtzentrum. Die Zahl der Menschen um sie herum nahm rasch zu. Auffälligerweise strebten die meisten in dieselbe Richtung wie sie. Es war ein heißer Sommertag und der Gestank ungewaschener Körper und offener Abwasserkanäle lag in der Luft.
Weit unangenehmer war für Arian jedoch die Verwandlung der Stadt. Anfangs spürte er sie nur, konnte sich die beklemmende Stimmung aber nicht erklären. Obwohl die Julisonne am Himmel stand, kam ihm Paris dunkler vor als früher. Bedrückender. Auf Höhe des
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