Die Masken des Morpheus
nicht zu interessieren, Monsieur de Nostredame.« Morpheus faltete das schwere Papier auseinander. »Giacomo Casanova?«, murmelte er beim Lesen und verzog angewidert das Gesicht. Casanova war ein Frauenheld, ein windiger Abenteurer, ein Spitzel, ein miserabler Dichter und ein jämmerlicher Claqueur – er verkaufte seinen Applaus für die schlechtesten Theaterstücke. Er war eine Schande für alle Körpertauscher.
Und ein glühender Verehrer von Tobes Pratt.
Morpheus ging den Inhalt der Nachricht ein zweites Mal durch. Dann sah er wieder Nostradamus an. »Er schlägt mir für den 13. Juli ein Treffen im Tempel vor. Wie will er in so kurzer Zeit von Böhmen nach Paris kommen?«
»Er ist ohnehin gerade auf Reisen und bereits auf dem Weg dorthin.«
»So? Ist er das?« Irgendetwas an dieser Botschaft stimmte nicht. »Kannst du ihn erreichen?«
»Nein, Fürst Morpheus. Die Brieftauben kehren nur in ihren Heimatschlag zurück. Eine fahrende Kutsche können sie nicht finden.«
»Natürlich. Nun, solche Hindernisse werden vielleicht bald der Vergangenheit angehören.« Er hob den Blick und deutete auf den Mast. »Wisst Ihr, was das ist, Monsieur?«
»Die Erfindung von Claude Chappe, eines Geistlichen aus Brûlon. Sie dient der Übermittlung von Gedanken über weite Entfernungen.«
»Sieht man davon ab, dass ein Deutscher so etwas schon vor zehn Jahren in Münster gemacht hat, habt Ihr recht. Chappe nennt diese famose Vorrichtung übrigens Tachygraf – ›Schnellschreiber‹ –, das Kriegsministerium spricht vom telegraphe . Die Signalmasten stehen zwischen Paris und Lille im Abstand von jeweils einem halben Tagesmarsch. In nur einer Minute legt ein Zeichen die Distanz von sechs Tagesmärschen zurück. Unglaublich, nicht wahr?«
»Wenn das Kind seines Spielzeugs überdrüssig ist, sucht es sich einen anderen Zeitvertreib. In ein paar Jahren wird niemand mehr über Telegrafen reden.«
»Und das sagt ausgerechnet Ihr, der große Nostradamus, der Prophet und Sternendeuter? Ich verspreche Euch, dass der Tag kommt, an dem eine Nachricht in einer Sekunde um die ganze Welt gehen wird.«
Nostradamus runzelte die Stirn. »Wollt Ihr mir damit erklären, dass Ihr in Bälde meiner Dienste nicht mehr bedürft?«
»Als Kurier vielleicht, als Mittelsmann wird man Euch noch weiterhin schätzen. Aber ich meinte eigentlich Folgendes: Das« – Morpheus trat einen Schritt näher an den Boten heran und deutete erneut auf den Flügeltelegrafen – »ist die Zukunft. Alles wird schneller, auch der Wandel. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. In früheren Epochen genügte es, dass unsereins in den Körper eines Königs oder Fürsten schlüpfte, und schon konnte er den Lauf der Welt verändern. Doch diese Ära geht ihrem Ende entgegen. ›Alles für das Volk; nichts durch das Volk‹, wie es noch Kaiser Joseph II. verkündete, wird die Massen nicht zufriedenstellen. Seine ›Revolution von oben‹ – vom Monarchen diktiert – wird scheitern. In Frankreich erleben wir gerade die Revolution von unten und das ist erst der Anfang. Wenn wir da nicht Schritt halten, wenn wir die Zukunft nicht selbst mitgestalten, wird es bald keine Körpertauscher mehr geben.«
»Ist das der Grund, weshalb Ihr achtzig Jahre lang verschwunden wart und nun als Schreckensfürst zurückgekehrt seid?«
Morpheus kräuselte die Lippen. »Ihr seid mutig, Monsieur, mir das offen ins Gesicht zu sagen. Das schätze ich so an Euch. Und Ihr habt recht. Meine jetzige Härte ist der neuen Zeit geschuldet. Ich habe fast ein Menschenalter gebraucht, um das zu begreifen und mich neu zu erfinden. Die Zustände im Nationalkonvent beweisen, dass die Herrschaft des Volkes die Diktatur von Minderheiten ist.«
»Es gilt doch das Mehrheitsprinzip.«
»Wie viele Menschen leben in Frankreich, Monsieur?«
»Knapp dreißig Millionen?«
»So ungefähr. Und nun sagt mir, wie viele davon die Jakobiner und Sansculotten in den Konvent gewählt haben.«
»Na, die Mehrheit.«
»Ja, aber wovon? Ihr müsst von den dreißig Millionen die Frauen abziehen, vom starken Geschlecht diejenigen, die jünger als fünfundzwanzig sind, sowie alle, die nicht genügend Steuern zahlen. Die am Schluss noch übrig bleiben – etwa jeder Zwölfte oder Dreizehnte –, drücken sich größtenteils um ihr Bürgerrecht. Und der kümmerliche Rest beauftragt die paar Tausend Wahlmänner damit, die Abgeordneten zu bestimmen, von denen wiederum nur ein Teil tatsächlich über den Kurs des Landes entscheidet.
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