Die Masken des Morpheus
Marché des Innocents, dem Markt in Les Halles, meinte er endlich, den Grund herausgefunden zu haben. Es war nicht das Verschwinden eines verhassten Gefängnisses oder der Umstand, dass die Straßen und Plätze nun neue Namen hatten.
Es lag an den Menschen.
Ihre Gesichter hatten sich verändert. Sie glühten entweder wie bei religiösen Eiferern oder waren finster und angsterfüllt. Unbeschwerte Freude konnte er nur noch bei Kindern entdecken. Vom Lachen der Erwachsenen wurde ihm schlecht. Es klang gehässig und schadenfroh, wie etwa bei den Männern, die einem Karmelitermönch die Kutte bis zum Gesäß abgeschnitten hatten und ihn in diesem entwürdigenden Aufzug durch die Straßen hetzten. War das der Preis für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die Aufgabe der Menschlichkeit?
Bei dem Gedanken fragte er sich unwillkürlich, ob er nicht wie diese Stadt war, ob auch sein Herz sich in kalten Stein verwandelte. Er hatte dagegen angekämpft. Bei der Gefangennahme durch Nostradamus war ihm ein erster Sieg über die dunklen Gefühle gelungen. Ikela hatte ihn in diesem Kampf bestärkt, als sie ihm riet, das Böse zu verabscheuen und seinen Hass nicht gegen Menschen zu richten. Tief in seinem Innern, das spürte er, lauerte dieses Böse noch. Es wartete darauf, erneut hervorzubrechen.
Die Reisegesellschaft ließ kurz nach dem Vorfall mit dem Karmeliter das Chateau du Louvre links liegen – die französische Nationalversammlung hatte beschlossen, das alte Königsschloss künftig als Museum für bedeutende Werke der Wissenschaft und Kunst zu nutzen. Auf der Rue Saint-Honoré passierten sie den Tuilerienpalast, wo im vergangenen August die Schweizergarde des Königs niedergemacht worden war.
Während sie an der Nordflanke des prachtvollen Gartens entlangritten, der sich dem Palais des Tuileries anschloss, drängte sich die Menschenmenge immer dichter an die Pferde heran. Einige Tiere waren kaum noch zu bändigen.
»Was ist da los?«, brach Arian das lange Schweigen.
Mira blickte starr geradeaus. »Gewöhnlich bedeutet so ein Menschenauflauf, dass es ein großes Spektakel gibt.«
»Du meinst …«?
Sie nickte. Ihre Miene wirkte wie versteinert. »Am Ende der Tuilerien ist die Place de la Révolution, wo man Ludwig XVI. hingerichtet hat – und meine Eltern.«
»Können wir keinen anderen Weg nehmen?«
»Das Hôtel de Lys liegt östlich davon.« Sie meinte das Stadtpalais ihrer Familie im Quartier de la Madeleine, einem Viertel im 8. Arrondissement.
Als sie die Rue Royale überquerten, sah er zur Linken den Grund für den Menschenauflauf: das Blutgerüst, das Schafott, auf dem die Guillotine stand. Es war mindestens dreihundert Schritte entfernt, zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Doch das, was Arian sah, genügte ihm. Gerade sauste das Fallbeil hinab und schnitt einem »Volksfeind« das Haupt ab.
Die Menge jubelte.
Der Henker bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, reckte er den abgetrennten Kopf am Haarschopf hoch, damit die Zuschauer ihn bestaunen konnten.
Das Publikum applaudierte wie zu einem grandiosen Schauspiel.
Mira blickte weiterhin starr geradeaus und rief: »Als im April letzten Jahres der Dieb Pelletier auf der Place de Grève enthauptet wurde, waren die Menschen noch empört, weil er so schnell gestorben ist. Sie sind mittlerweile auf den Geschmack gekommen. Heute ist der Tod zum Geschäft geworden. Die Avenue des Champs-Élysées am Ostausgang des Platzes quillt an solchen Tagen über vor Buden und Schaustellern. Du musst fünf Sous zahlen, damit du auf einen Pferdewagen steigen und besser sehen kannst.«
Arian wandte sich schaudernd ab. »Vielen Dank, ich verzichte.« Gerade hatte man den Leichnam von der Maschine geschnallt und führte den nächsten Delinquenten aufs Blutgerüst.
Je weiter der Hinrichtungsplatz zurückblieb, desto stiller wurde es auf ihrer Route. Mira übernahm nun die Führung. Auf der Rue du Faubourg Saint-Honoré durchquerte der Tross La Ville l’Eveque, vor nicht allzu langer Zeit noch ein Vorort, der nun zum 8. Stadtbezirk gehörte. Schließlich bogen sie rechts in die Rue de Chemin Verd ein. Im Vergleich zu den zentraler gelegeneren Stadtpalästen nahmen sich die hier wie auf einer Perlenkette aneinandergereihten Palais geradezu bescheiden aus.
»Das alles, von den Champs-Élysées bis hierhin, war früher Sumpfland«, erklärte Mira. »Meine Großeltern haben geholfen, es urbar zu machen. Unser Haus steht da vorn.« Sie deutete zum Ende der
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