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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Schatten des Sockels, auf dem einst das Reiterdenkmal Ludwigs XIV. gestanden hatte, wurde seit einiger Zeit wieder länger. Wie spät es wohl war? Morpheus zog die goldene Uhr, die er mit Arians Körper erbeutet hatte, aus der Tasche und öffnete den Deckel. Fast halb drei. Er klappte den Zeitmesser zu, steckte ihn weg und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem achteckigen Platz zu.
    Es war erstaunlich ruhig da unten. Die Wut über den Mord an dem Volksfreund, die am Vorabend noch so viele auf die Straßen getrieben hatte, war einer lähmenden Betroffenheit gewichen. Sogar Morpheus bedauerte das Dahinscheiden einer seiner besten Pferdchen im Stall. Womöglich ließ sich aus der Not ja eine Tugend, aus Jean-Paul Marat ein Märtyrer der Revolution machen. Dann würden die Jakobiner und ihre gewalttätigen Verbündeten in den langen Hosen erst recht auf die Mahner losgehen, die vom Volk Mäßigung verlangten. Es würden so viele Köpfe rollen, dass er, Monsieur M., die frei werdenden Positionen mit seinen Leuten besetzen konnte. Und längst erscholl auch in anderen Ländern Europas der Ruf nach einer neuen Ordnung. Frankreich war erst der Anfang.
    Wo nur Madame Grosholtz blieb? Sie hatte versprochen, bis Mittag zu liefern. Im welligen Glas des Fensters sah Morpheus sein Spiegelbild, das junge Gesicht seines Urenkels. Die Neuigkeiten aus dem Wald von Compiègne hatten ihn nachträglich darin bestärkt, seine beiden wertvollsten Besitztümer mit nach Paris zu nehmen. Die Nachricht war kurz nach Arians Hinrichtung über den Chappe’schen Flügeltelegrafen eingetroffen: Ivoria ist gefallen . Ikelas Söldner hatten den Elfenbeinpalast, getarnt als Soldaten der Nationalgarde, eingenommen. Was oder wen immer sie gesucht hatten, sie waren leer ausgegangen.
    Morpheus zog eine Grimasse. Die jüngsten Rückschläge bereiteten ihm Magendrücken. Er hätte seinen Urenkel gleich bei der ersten Gelegenheit umbringen sollen. Andererseits hatte Arian ihm Ikela ans Messer geliefert. Für die geliebte Feindin hätte er zehn Elfenbeinpaläste geopfert. Er würde sie vermissen.
    Ein Klopfen hallte durchs Haus. Nebenan knarrten Dielen, als ein Lakai auf leisen Sohlen zur Haustür huschte. Wer wagte es, mitten am Tag den Bannkreis zu verletzten? Nur wenige Getreue kannten das Pariser Versteck des Metasomenfürsten.
    Plötzlich krachte es. Laute Stimmen ertönten. »Machen Sie Platz, Monsieur. Legen Sie die Waffen nieder.« Ein Schuss fiel. Jemand schrie. Gleich darauf knallte es zum zweiten Mal und abermals brüllte ein Leibwächter auf.
    Morpheus eilte zu einer Kommode, in der zwei geladene Pistolen lagen. Er riss die Schublade auf. Als er nach den Vorderladern griff, flogen die beiden Flügeltüren auf. Nationalgardisten mit Flinten stürzten herein und zielten sofort auf ihn. Sie hatten die Bajonette aufgepflanzt und trugen Handschuhe, als wüssten sie genau, wen sie vor sich hatten.
    Zwischen ihnen trat ein schlecht gekleideter Herr mit Perücke hervor. Kriminalkommissär Perriere. Er lächelte nicht. »Bitte vermeiden Sie hastige Bewegungen, Monsieur M. Heben Sie langsam die Hände und drehen Sie sich noch langsamer um. Wenn ich nur ein Zucken von Ihnen sehe, sterben Sie im Kugelhagel.«

    Arian hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Der Gestank aus dem Kerker weckte ungute Erinnerungen. Er war froh, dass Mira ihn in die Conciergerie begleitete. In ihrer Gegenwart fühlte er sich stärker, und Kraft brauchte er wahrlich für das, was er vorhatte.
    »Hier ist es«, brummte der Kerkermeister, deutete auf eine Gittertür und schlurfte davon.
    Es kam Arian wie eine Ironie des Schicksals vor, dass Morpheus in derselben Zelle saß, in der auch er am vergangenen Tag auf seine Hinrichtung gewartet hatte. Ehe er ihm seine Aufmerksamkeit widmete, begrüßte er jedoch den Mann, der gegenüber einsaß.
    »Schön, Sie wohlauf zu sehen, Monsieur Clavière. Wie geht es Ihnen?«
    Der ehemalige Finanzminister trat an die Tür. »Verzeihen Sie, kennen wir uns?«
    »Ich habe von Ihnen einiges über die Louisette gelernt.«
    »Tatsächlich?« Étienne Clavière rieb sich das stoppelige Kinn. »Und Sie sind?«
    »Nur ein Henkersknecht.«
    Der Alte kicherte. »Sagen Sie bloß, meine Einflüsterungen hätten Sie bei der Berufswahl beeinflusst? Das würde meinem Leben einen ganz neuen Sinn verleihen.«
    »Ich will es mal so ausdrücken: Seit unserer letzten Begegnung bin ich ein anderer Mensch geworden.«
    »Danke, Monsieur … ?«
    »Legros. Clement

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