Die Masken des Morpheus
hören. Wie befürchtet, hatte der Lärm den Kerkermeister auf den Plan gerufen.
»Wie soll ich jetzt noch meinen Körper zurückbekommen?«, klagte Arian. »Selbst, wenn ich ihn berühren könnte, bliebe ich in der Zelle gefangen. Dann wäre ich der erste Mensch, der zweimal geköpft wurde.«
»Wundervoll!«, jubelte Clavière. »Das ist nun wirklich mal was Neues.«
»Kommen Sie, die Besuchszeit ist vorbei«, hallte die Stimme des Concierge durch den Zellengang.
»Wir müssen den Plan ändern«, raunte Mira. Sie bückte sich, sammelte rasch ein paar Brotkrümel auf und streckte sie dem schnüffelnden Burschen in der Zelle entgegen. »Schau, mein kleiner Nager, ich hab da was Feines für dich.«
Arian blickte zum Kerkermeister, der mit energischen Schritten näherkam. »Du willst doch nicht wirklich, dass ich ihn berühre, Mira?«
»Nein. Aber da dir so viel an deinem Körper liegt, bleibt dir nichts anderes übrig. Vertrau mir. Ich rette dich vor dem Blutgerüst.«
Sein Kopf war wie leer gefegt. Ihm blieb ohnehin keine Zeit mehr zum Nachdenken. Er kniete sich neben sie und nahm ihr die Krümel aus der Hand. Mira zog sich zurück.
»Wenn Sie nicht sofort gehen, dann lasse ich Sie mit Gewalt entfernen, und Sie bekommen eine Geldstrafe«, drohte der Concierge. Er hatte die Zelle fast erreicht.
Die Ratte, die sich im Körper des englischen Gauklers eingenistet hatte, musste ziemlich ausgehungert sein. Schnüffelnd kroch sie heran, zögerte zwei Kerkermeisterschritte lang und schnappte mit ihrem Mund nach den Leckerbissen.
Wie Arian vor dem Revolutionstribunal
um sein Leben kämpfen muss,
weil man ihn für seinen eigenen Urgroßvater hält.
Paris, 15. Juli 1793
Der erste Fall, den das Revolutionstribunal am Montagmorgen verhandelte, war eine Eilsache. Um sich Proteste seitens der Öffentlichkeit zu ersparen, wurde der Termin bereits für sieben Uhr anberaumt. Er fand auch nicht im großen Sitzungssaal des Justizpalastes statt, sondern an einem weniger vornehmen Ort, der zur Conciergerie gehörte. Hier sollte der Bürger Mortimer Slay des Hochverrats angeklagt werden. Monsieur Herman, dessen erster Vorname bezeichnenderweise Martial lautete, ließ es sich als Präsident des Tribunals nicht nehmen, dem Prozess persönlich vorzustehen. Dasselbe traf auf den obersten öffentlichen Ankläger zu, den Bürger Antoine Quentin Fouquier-Tinville, obwohl dieser in dem Fall nicht ganz unbefangen war. Niemand zweifelte daran, dass dieser überraschend jugendlich wirkende, lockenköpfige Monsieur M. sein unrühmliches Leben noch vor Ende des Tages auf der Guillotine beschließen würde.
Mit gesenkten Bajonetten führten zwei Nationalgardisten Arian in die Salle des gens d’armes – den »Saal der Waffenträger«. Eigentlich war es der ehemalige Speisesaal für die Bediensteten des französischen Königs, eine riesige, düstere, mittelalterliche Halle aus gelbem Sandstein, über sechzig Schritte lang, fast dreißig breit und ungefähr fünf Manneslängen hoch. Spaliere von Pfeilern trugen gotische Kreuzrippengewölbe, die den Saal in einzelne Joche unterteilten. Dazwischen waren Trennwände eingezogen, um mehr als zweihundert Geschäften Raum zu bieten. Goldschmiede, Weinhändler, Friseure, Buchhändler, Parfümeure und viele andere verdienten in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Todgeweihten ihren Lebensunterhalt.
Das letzte Joch des Waffenträgersaals war durch ein Gitter vom übrigen Bereich abgetrennt. Die Revolutionäre nannten diesen Abschnitt die Rue de Paris – »Pariser Straße«. Hier lagen mittellose Gefangene auf moderndem Stroh, hier holte der Scharfrichter seine Verurteilten ab, und hier war an diesem Morgen das Revolutionstribunal zur Verhandlung des besonderen Falls zusammengetreten.
Die Gardisten drückten Arian auf einen Stuhl, der gegenüber dem etwas erhöhten Tisch des Richters und seiner beiden Beisitzer stand. Das gewaltige Möbel sah aus wie ein Sarkophag. Darunter duckte sich der vergleichsweise kümmerliche Arbeitsplatz des Gerichtsschreibers. Der Ankläger nahm ein Stehpult zur Linken in Beschlag. Ein Verteidiger war nicht vorgesehen.
Arian traute seinen Augen nicht, als er den Mann neben Herman erkannte. Es war kein geringerer als Maximilien de Robespierre. Mit seinen glühenden Reden hatte dieser stets akkurat gekleidete Konventsabgeordnete den König aufs Schafott gebracht und den Terror als Ausdruck der Tugend zu einem Regierungsgrundsatz erhoben. Wie wollte es
Weitere Kostenlose Bücher