Die Masken des Morpheus
Mira schaffen, diesem Eiferer, den man »den Unbestechlichen« nannte, einen Freispruch abzuringen? Arian sah sich besorgt um. Wo war sie überhaupt?
Der Präsident eröffnete die Sitzung ohne das übliche Pathos der öffentlichen Schnellprozesse. Im Gegensatz zu Robespierre trug er keine Perücke, dafür aber einen merkwürdigen Hut mit Federn.
Sein Gesicht wirkte völlig gefühlsentleert. Nach einer kurzen Einleitung, in der er den Namen des Beschuldigten und das ihm zur Last gelegte Verbrechen – Verschwörung gegen die Revolution – verlas, erteilte er dem Ankläger das Wort.
Fouquier-Tinville reckte sich hinter seinem Pult, um sich gebührend ins Licht zu rücken. Sein Äußeres weckte nicht gerade den Wunsch, ihn zum Tee einzuladen. Vor allem seine kalten Augen beunruhigten Arian. Klein, langnasig, untersetzt vermittelte er das Bild eines Wühlers, der so lange im Dreck anderer Leute stocherte, bis er etwas Todeswürdiges fand. Ein bombastisches Tuch kaschierte seinen Hals, sodass einen das Gefühl beschlich, sein Kopf säße direkt auf den Schultern. Das lockige braune Haar war über den Schläfen bereits ausgefallen.
Der Ankläger schilderte in einem dramatischen Eröffnungsplädoyer, was die drei Zeugen Du Lys, Tarin und Legros am Sonntagmorgen vor der Kommission ausgesagt hatten. Mademoiselle Du Lys, die Geliebte des Bürgers Slay, habe von diesem Details über den Mord an Jean-Paul Marat erfahren, die nur der Täter selbst wissen könne. Der Vorsitzende Herman fragte, ob die Zeugin denn zugegen sei, um ihre Schilderungen zu wiederholen.
»Bedauerlicherweise nicht«, antwortete Fouquier-Tinville. »Aber wir haben ihre Aussage zu Protokoll genommen. Außerdem können wir Zeugen aufrufen, die am Nachmittag vor dem Mord auf der Place de la Révolution einen aufgeregten Wortwechsel zwischen den Bürgern Slay und Marat gesehen haben.«
Herman wedelte mit der Hand, so als wolle er eine Fliege verscheuchen. »Später, Fouquier-Tinville. Zunächst möchte ich Ihr Plädoyer zu Ende anhören.«
Also fuhr der halslose Ankläger fort und schilderte in epischer Breite die revolutionsfeindlichen Umtriebe des sogenannten Monsieur M., die schon lange vor dem feigen Mord an Marat begonnen hätten. Sogar Arian fand ihn sehr überzeugend, was ihn eher noch mehr beunruhigte. Viele der Aussagen, die der Henkersgehilfe Clement Legros sowie ein Bürger namens Tarin aufgedeckt hätten, seien inzwischen von den Ermittlern des Kriminalkommissärs bestätigt worden.
»Ich bin gespannt, was der Mitarbeiter von Monsieur de Paris uns zu berichten hat«, sagte der Präsident.
Fouquier-Tinville verzog das Gesicht. »Leider hat ihn gestern ganz plötzlich eine unerklärliche Krankheit heimgesucht. Sein Geist ist völlig umnachtet. Er gebärdet sich wie ein wildes Tier.«
Herman stöhnte. »Und dieser Tarin? Ist der auch verblödet?«
»Nein, ehrenwerter Vorsitzender. Zu meinem großen Bedauern muss ich feststellen, dass er nicht zur Verhandlung erschienen ist.«
Auf der Stirn des Präsidenten bildete sich eine steile Falte. »Ich hoffe, Sie haben mir mehr zu bieten als verloren gegangene Zeugen und ein paar Bürger, die auf dem Richtplatz zwei Streithähne beobachtet haben.«
Arian schöpfte Hoffnung. Wenn schon Mira nicht auftauchte, dann gestand ihm der Richter aufgrund der dürftigen Beweislage vielleicht wenigstens eine Galgenfrist zu.
»Ich denke, hochverehrter Vorsitzender, die amtlich protokollierte Aussage von Mademoiselle Du Lys allein genügt, um diesen Volksfeind der Guillotine zu übergeben.«
»Fürwahr, die Vorwürfe wiegen schwer«, pflichtete der Präsident bei.
Arian sank verzagt im Stuhl zusammen. Also doch die Guillotine?
»Nein, tun sie nicht. Ich kann beweisen, dass dieser Mann unschuldig ist«, rief plötzlich jemand, der jenseits der Gitterstäbe stand.
»Klappe halten!«, blaffte ihn ein Nationalgardist an und schlug mit dem Kolben seiner Flinte gegen die Stäbe.
Herman beugte sich vor und reckte den Hals. »Wer spricht da?«
»Bürger Laurent Basse, der Gehilfe Jean-Paul Marats, verehrter Präsident.«
»Lassen Sie den Mann vor«, verlangte Herman.
Die Gittertür wurde aufgeschlossen und der neue Zeuge eingelassen. Arian wagte wieder zu hoffen. War es tatsächlich Charlotte Corday im Körper des Zeitungsfalters, die jetzt in den Zeugenstand trat? Oder…?
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte der Vorsitzende.
»Ich kenne den Bürger Basse«, sagte Robespierre. Sein Wort hatte offenkundig
Weitere Kostenlose Bücher