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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Überfahrt nach Dover bleibt ihnen nur eine Chance.
      
      
      
    Calais, 23. Juli 1793
      
    Nach knapp einwöchigem Ritt schloss sich für sie der Kreis. Am Nachmittag erreichten sie Calais. Es war der Tag, an dem sich Mainz – die erste Republik auf deutschem Boden – den preußischen Belagerern ergeben hatte. Arian kapitulierte lediglich vor Mira, die endlich einmal in einem sauberen Bett schlafen wollte, nicht nur auf Strohmatratzen oder Waldböden.
    Also lenkten sie ihre Pferde geradewegs zu Desseins Gasthof, der zu den besten Adressen Europas gehörte. Es war ein kolossales Etablissement, ganz auf die Bedürfnisse der Reisenden ausgerichtet, die in Calais tage-, manchmal wochenlang auf ein Schiff warten mussten. Arian kam es wie eine kleine Stadt vor, mit allem, was dazugehörte. Schlosser, Stellmacher, Schmiede, Sattler, Riemer und Schreiner. In der Remise konnte man Fuhrwerke beliebiger Form und Größe kaufen. Die Magazine quollen über vor Koffern, Mantelsäcken, Sattelzeug und jeder Art von Reisezubehör. Barbiere und Friseure, Schneider, Hut- und Schuhmacher umwarben die Gäste ebenso wie die Modisten, Seiden-, Tuch- und Bijouteriehändler. Vor dem Krieg hatte es hier nur so gewimmelt von wohlbetuchten Engländern, die sich im hauseigenen Theater amüsierten, sich in den Bädern entspannten und in den Lesezimmern Zerstreuung suchten. Das junge Paar, das in getrennten Zimmern Quartier nahm, trieb es jedoch kurz nach der Ankunft schon wieder hinaus auf die Straße.
    »Wo, denkst du, finden wir am ehesten jemanden, der uns über den Kanal bringt?«, fragte Mira. Sie hatte sich bei Arian untergehakt.
    »Am Hafen. Da, wo die Schmuggler einkehren.«
    Wenig später saßen sie in einer Spelunke, in der es nach Bier, Wein, Most und Cidre roch. Letzteres, der Apfelschaumwein, wurde vornehmlich von den leichten Mädchen getrunken. Die Seebären bevorzugten stärkere Getränke. Das Paar setzte sich zu einem bärtigen Raubein, dessen verwegene Erscheinung am ehesten dem gängigen Klischee von einem Schmuggler entsprach. Arian spendierte ihm einen Krug Gerstensaft, dann noch einen Humpen, und bei der dritten Maß wurde der etwa fünfzigjährige Mann endlich gesprächig. Er prahlte sogar mit seinem »zollfreien Warenhandel«. Auf Arians Frage nach der Überfahrt wurde er einsilbig.
    »Schwierig«, lallte er.
    Arian runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
    »Blockade.«
    Er sah Mira an. »Meint er eine Seeblockade der Engländer?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube eher, die Franzosen lassen keine fremden Schiffe herein.«
    »Vielleicht können wir ja wenigstens das herausfinden.« Arian wandte sich wieder dem wortkargen Seebär zu. »Wir kommen aus Paris. Was gibt es Neues vom Krieg?«
    Der Mann erklärte umständlich, dass die Alliierten drei Tagesritte vor Calais stünden. Seit dem 13. Juli belagerten sie Valenciennes. Der junge Frederick Duke of York – er sei erst neunundzwanzig – setze der republikanischen Armee gehörig zu. Seine Erfolge heizten die Stimmung in der Küstenregion auf. Die Menschen meinten, mit dem Aufstieg der Jakobiner sei das Kriegsglück verloren gegangen. Manche sprächen bereits von einem drohenden Bürgerkrieg. Umso strenger kontrolliere die Nationalgarde die Kanalküste und die Gewässer davor. Auf englischer Seite passiere das Gleiche. »Unmöglich«, schloss er seinen Bericht.
    »Eben erst sagten Sie, es sei nur schwierig «, bemerkte Arian. »Bedeutet das, es gibt doch einen Weg nach England zu kommen?«
    Der Seebär grinste. »Klar. Durch die Luft.«
    Arian sah Mira an. »Ich glaube, das letzte Bier war zu viel für ihn.«
    Der Betrunkene packte jäh seinen Arm, stierte ihn aus glasigen Augen an und lallte: »Mit der Mon… der Montgo…« Er stürzte den Rest seines Gesöffs hinunter und setzte zum dritten Mal an. »Der Montgolfière.«
    »Er meint den Freiballon der Gebrüder Montgolfier?«, sagte Mira.
    Der Schmuggler nickte zweimal. Dann fiel sein Kopf auf die Tischplatte und er fing an zu schnarchen.

    Am Vormittag des nächsten Tages ritten Arian und Mira an der Küste nach Südwesten. Sie hatten am vergangenen Abend erfahren, dass die Gebrüder Montgolfier tatsächlich in der Gegend mit ihren »Aerostatischen Maschinen« experimentierten. Joseph Michel und Jacques Étienne waren für ihre fliegenden Kugeln weit über Frankreichs Grenzen hinaus berühmt. Bereits vor zehn Jahren – am 19. September 1783 – hatten sie mit dem ersten »bemannten« Flug

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