Die Masken des Morpheus
seinen Arm um ihre Schulter. »Ist gut, Schatz. Das Schicksal lässt sich nicht zwingen.«
»Verzeihen Sie mir meine Indiskretion«, sagte Jacques, »aber ein so schönes Geschöpf wie Sie weinen zu sehen, macht uns das Herz schwer. Gibt es irgendetwas, das wir für Sie zu tun vermögen?«
Mira schüttelte den Kopf. »Nein. Sie werden uns ja kaum Ihre Montgolfière überlassen, damit wir nach England zurückkehren und den siechen Vater meines Verlobten besuchen können.«
»Sergeant Major Astley ist krank? Eine Kriegsverwundung?«
»Ein gemeiner Mörder hat versucht, ihm den Schädel einzuschlagen«, antwortete Arian. »Nun hängen wir hier fest und wissen nicht, ob wir ihn jemals lebend wiedersehen.«
»Das ist tragisch. Ich wünschte, wir könnten etwas für Sie tun.«
»Wäre es denn möglich, mit der Luftkugel den Kanal zu überqueren? In der Gegenrichtung ist es doch schon mal gelungen.«
»Das ist richtig. Als Blanchard und Jeffries von Dover aufbrachen, hatten sie den Wind im Rücken.« Jacques schüttelte den Kopf. »Von Ost nach West sind die Verhältnisse ungleich schwieriger, vielleicht sogar unmöglich. Die letzten, die das Wagnis eingegangen sind, waren Pilâtre de Rozier und Pierre Romain. Sie sind bei dem Versuch vor acht Jahren tödlich verunglückt. Seitdem hat niemand mehr die Kühnheit besessen.«
»Nicht unmöglich«, widersprach ihm sein Bruder. »Wir haben den Vogelflug beobachtet, Jacques. In großen Höhen können sich die Luftströmungen umkehren. Außerdem hat Rozier eine Rozière, keine Montgolfière benutzt.«
»Gibt es da einen Unterschied?«, fragte Arian.
»Der Ballon von Pilâtre war zusätzlich mit Gas gefüllt. Es könnte sich entzündet haben«, erklärte Joseph.
»Denkbar wäre es also, den Ärmelkanal zu überqueren?«
»Rozièren sind sparsamer im Verbrauch des Brennmaterials als unser Aerostat. Mein Bruder und ich halten die Unwägbarkeiten für zu mannigfaltig, um eine so weite Fahrt über dem offenen Meer zu wagen. Sollte die Montgolfière wassern, müssten die Luftfahrer ertrinken.«
»Und warum machen Sie dann ausgerechnet hier am Kanal neue Versuche?«
Erneut tauschten die Geschwister Blicke, sagten aber nichts.
Arian ahnte, was dahintersteckte. Nur drei Tageritte weiter westlich standen die Alliierten Armeen. Mit einem fliegenden Ballon konnte man ihre Stellungen aus sicherer Höhe ausspionieren. Vermutlich hatte die Republik sich seiner Luftfahrtpioniere entsonnen und stachelte sie nun zu neuen Höhenflügen an. Um keinen Verdacht zu erregen, kam er auf das ursprüngliche Anliegen zurück. »Dann wird also nichts aus der epochalen Kanalüberquerung?«
Jacques schüttelte abermals den Kopf. »Sie meinen es wirklich ernst?«
»Für uns ist es eine Frage von Leben und Tod«, antwortete Mira.
»Das gilt für meinen Bruder und mich genauso. Sollte Ihnen etwas zustoßen, würde das einen Schatten auf unsere Arbeit werfen.«
»Ich schätze«, erwiderte Arian leise, »kaum jemand weiß, was Sie hier tun. Sofern wir scheitern, versinkt Ihr Ballon im Meer, und niemand wird je von dem Versuch erfahren. Wenn er jedoch gelänge, hätten Sie wertvolle Erkenntnisse für Ihre … Auftraggeber gewonnen.«
Zum dritten Mal hielten die Brüder stumme Zwiesprache. Der jüngere wiegte den Kopf hin und her, als könne er sich weder für ein klares Ja noch für ein Nein entscheiden. Der ältere wandte sich wieder Arian zu.
»Geben Sie uns Bedenkzeit bis morgen Abend.«
»Danke. Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte.«
Arian und Mira verabschiedeten sich, schwangen sich auf ihre Pferde und ritten in Richtung Calais davon.
»Was denkst du?«, fragte Mira, als sie außer Hörweite waren. Er schüttelte den Kopf. »Sie werden uns ihren Ballon nicht überlassen. Es gibt tausend Gründe, die dagegen sprechen.«
»Traust du dir zu, das Ding in die Luft zu kriegen?«
»Was ich gesehen habe, sah nicht sonderlich schwierig aus.«
»Dann lass uns heute Nacht zurückkehren.«
»Du meinst …?«
Sie nickte. »Wir borgen uns ihre Luftkugel aus.«
Wie Arian und Mira einmal mehr zu Gejagten werden
und in ihrer Not gemeinsam durchs Feuer gehen.
Calais, 24. Juli 1793
Der Mann, der gegenüber an der Hauswand lehnte, lungerte schon seit einer Stunde auf der Straße herum und beobachtete das Kommen und Gehen der Gäste. Er scheute nicht einmal das Licht der Laterne, die über der Toreinfahrt hing. Vom Dreispitz bis zu den hohen Stiefeln war er ganz in Schwarz
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