Die Masken des Morpheus
darüber führte vielerorts zu weiteren Tumulten.
Einige Kommandeure der Nationalgarde versuchten das Ruder wieder herumzureißen. Arian und seine beiden Begleiter bekamen das in Gestalt eines Dragonerregiments zu spüren, das vom Ärmelkanal aus nach Paris aufgebrochen war, um für die Girondisten Partei zu ergreifen. Fast wären sie von der berittenen Einheit aufgegriffen worden. Ohne Tarins wachsame Sinne hätten sie nicht einmal die ersten vierundzwanzig Stunden überstanden.
Nun waren daraus schon drei Tage geworden, und während sie in der Abenddämmerung Saint-Amand durchquerten, fragte sich Arian, wie viele wohl noch folgen würden. Sie ritten an verkohlten Häusern vorbei, an ausgebeinten Kadavern von Pferden und an Ruinen, durch die geisterhafte Gestalten huschten – verängstigte Menschen vermutlich, die beim Laut des Pferdegetrappels nur an Soldaten und Tod denken konnten.
Am östlichen Ortsausgang begegneten sie einem Greis, der auf seinen knorrigen Stock gestützt die zerstörte Stadt betrachtete. Der Nieselregen hatte inzwischen aufgehört. Als die Reiter neben ihm anhielten, sah er sie aus seinem zerfurchten Gesicht grimmig an. Um nicht für Spione der Koalition gehalten zu werden, hatte Mira in den vergangenen Tagen die Aufgabe der Wortführerin übernommen. Zwar hörte man ihr die gehobene Herkunft an, was bei dem verbreiteten Hass auf alle Adligen allein schon lebensgefährlich sein konnte, doch Tarin und Arian waren mit ihrem mehr oder minder starken Akzent noch viel verdächtiger.
»Guter Mann«, wandte sich das Mädchen an den Alten, »ob Sie uns wohl sagen können, wie man am besten den Kugeln ausweicht, die hier überall durch die Gegend schwirren?«
Der Greis kniff ein Auge zu und musterte die hübsche Reiterin misstrauisch von Kopf bis Fuß. Besonders gründlich beäugte er die Culotten, die unter ihrem Rock hervorlugten. Zu einer Antwort konnte er sich nicht durchringen.
»Monsieur?«, setzte Mira abermals an.
»Wer will das wischen?«, stieß er mit krächzender Stimme hervor, wobei er ein so derbes Picardisch sprach, dass Arian ihn kaum verstand. Er war auch viel zu abgelenkt, weil der Feuerkristall ihm hinter dem Äußeren des alten Mannes das Bild eines von der Mauser zerrupften Raben zeigte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
»Das ist mein Onkel François Hubard.« Mira deutete auf Arian. »Er und mein Cousin bringen mich nach Befey.«
»Nach Lothringen? Zu dieser Zeit? Scheid ihr noch ganz richtig im Oberschtübchen? Wasch wollt Ihr überhaupt da?«
Arian konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass im Gegenteil der Verstand des greisen Mannes unter den Kanonaden der letzten Monate gelitten hatte. Dennoch bemühte sich Mira weiter um einen freundlichen Ton. »In Befey gibt es eine Schule für Mädchen, das Institut de la Providence.«
»Eine Schule für Mädchen? « Der Alte schüttelte verständnislos den Kopf. »Es reicht doch wohl, dasch diesche verdammten Jakobiner unschere Jungen vom Feld wegholen wollen? Wer scholl denn da die hungrigen Mäuler schtopfen, wenn jetzt auch noch die …«
»Bitte entschuldigen Sie, Monsieur, aber wir haben es sehr eilig. Kennen Sie eine sichere Route nach Befey?«
Er zeigte mit seinem Stock nach Osten. »Reitet gerade durch den Wald, bisch ihr auf die Schelde stoßt …«
»Die Selde ? Ist das ein Fluss?«, entfuhr es Arian.
»Wenn isch Schelde schage, meine isch auch Schelde«, entgegnete der Alte schnippisch. »Überquert den Flusch ungefähr eine Wegschtunde schüdlich von Condé, um den Öschterreischern aus dem Weg zu gehen. Habt Ihr eine Karte?«
»Ja.«
»Dann orientiert euch an Creschpin …«
»Ihr meint, Crespin?«, wagte Mira nachzuhaken.
Der Greis stampfte mit seinem Stock auf. »Müscht ihr mir schtändig insch Wort fallen? Dasch gehört schich nisch.«
»Verzeihung, Monsieur. Bitte fahren Sie fort.«
»Jetzt will ich nicht mehr.« Er blickte beleidigt in eine andere Richtung.
Mira schenkte ihm ein bestrickendes Lächeln, was sie nach Arians Meinung besonders gut konnte. »Sie haben bestimmt Furchtbares erlebt, Monsieur. Wenn Sie uns solches Leid ersparen wollen, so helfen Sie uns bitte. Wohin müssen wir uns wenden, nachdem wir Crespin erreicht haben?«
Ihr Charme brachte das Herz des Alten zum Schmelzen. Er sah sie wieder an. »Dann müschte dasch Schlimmschte hinter euch liegen. Reitet einfach weiter nach Oschten, aber auf keinen Fall nach Schüden, schonscht schtoscht ihr auf das
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