Die Masken des Morpheus
Rebellen auslöschen wollte? Ich muss ihm die Liste abnehmen, dachte Arian. Nur wie?
»Mir ist so schwindelig«, antwortete er lallend und spielte den Verwirrten. Scheinbar benommen wankte er nach vorn und prallte gegen Morpheus. Im Augenblick der Berührung fuhr seine Rechte in dessen Innentasche. Dabei ließ er sich vom Seelenecho des alten Taschendiebes Zedekiah Blacksmith leiten – verblüffend geschickt angelten Arians Finger das verräterische Schriftstück aus dem Frack des überraschten Fürsten. Aus dem Hintergrund vernahm er Waffengeklapper und Schritte, vermutlich zückten die Leibwachen ihre Säbel und stürzten auf den vermeintlichen Attentäter zu. Morpheus stieß ihn von sich.
Im selben Moment war Mira da. Sie musste um ihn herumgelaufen sein, packte ihn von hinten an den Schultern und zog ihn vom Palastherrn weg. Geistesgegenwärtig brachte sie den Umschlag an sich, den er ihr hinter seinem Rücken zusteckte. Er konnte nicht sehen, wo sie die Liste verschwinden ließ, vielleicht unter ihrem Schultertuch.
Arian blinzelte. »V-verzeiht, Hoheit«, stotterte er. Er blickte an sich herab und betastete vorgeblich erstaunt seinen Körper. »Warum habt Ihr das getan?«
Morpheus bedeutete seinen Leibwächtern, sich auf ihre Posten zurückzuziehen, ehe er antwortete. »Um deine Zweifel zu zerstreuen. Ich weiß nicht, was Ikelas Sohn euch beiden über mich erzählt hat, aber ich vermute, es war nichts Gutes. Wäre ich das Ungeheuer, das alle Tauscher zu verschlingen sucht, hättest du unsere Verschmelzung nicht verhindern können. Du wärst jetzt tot. Stattdessen habe ich dir meinen famosen Leib ausgeliefert: Du bist nun der Starke und ich bin ein einäugiger Halunke. Du könntest mich erschlagen, wenn du wolltest. Immer noch misstrauisch?«
Arians Blick wanderte zu den Wachen mit ihren Musketen und Rundsäbeln. Sie würden ihren Herrn durchaus zu schützen wissen. Außerdem hielt er Turtlenecks Körper keineswegs für schwach und wehrlos. Dem des Fürsten wohnte allerdings etwas von ganz anderer Natur inne, etwas Furchteinflößendes. Arian empfand diese stoffliche Hülle wie eine Planke im weiten Ozean und sich als Schiffsbrüchigen, der sich daran festklammerte, wohl wissend, dass sich unter ihm dreitausend Meilen Finsternis befanden. Er spürte vermutlich das Seelenecho der gewaltigen Macht des Metasomenfürsten.
Morpheus wog den Feuerkristall in der Hand. Mit einer raschen Bewegung setzte er den Stein in die leere Augenhöhle und sah sein Gegenüber an. »Ah! Wie aufschlussreich.«
»W-was seht Ihr?«, stotterte Arian.
»Den Körper eines Löwen mit den Schwingen eines Schwans und dem Kopf eines Adlers – erhabene Kraft und Anmut in einer Person. Das ist famoser als ich gedacht habe. Ich vermute, du stammst aus einem königlichen Geschlecht.«
»Ich?« Arian benetzte seine Lippen mit der Zunge. »Sicher bedeutet es nur, dass ich mich noch nicht entschieden habe.«
»Dann bist du also jünger als dieser Leib.« Morpheus deutete an sich herab.
Arian biss sich auf die Unterlippe. Er musste vorsichtiger sein! Der Metasomenfürst hatte Mortimer zum Führer seiner Schwarzen Wölfe ernannt. War es da klug, sich als Sohn von Tobes Pratt zu offenbaren?
»Wie ich sehe, bist du nach wie vor nicht überzeugt«, sagte Morpheus. Er wirkte weder überrascht noch erzürnt. »Vielleicht möchtest du dich ja lieber jemand anderem anvertrauen.« Er hob den Arm und gab dem Zeremonienmeister, der reglos am Durchgang zur Eingangshalle stand, einen Wink.
Der Lakai mit dem goldenen Stab drehte sich um und klopfte drei Mal gegen die Tür.
Die mächtigen Flügel schwangen lautlos auf.
Ein hellhäutiger, auffallend schlanker Mann betrat gemessenen Schrittes den Saal. Seine luftige Kleidung ähnelte der des Fürsten, nur dass der Stoff indischrot und die Krageneinfassung silberfarben war. Je näher der Unbekannte kam, desto schneller schlug Arians Herz. Das üppige, schwarz gelockte Haar, das spitze Kinn, die hohen Wangenknochen und schließlich die blauen Augen – das alles hatte er schon oft gesehen. In einem Miniaturgemälde. Nur war das Gesicht aus seiner Taschenuhr um zwanzig Jahre gealtert. Tränen verschleierten seinen Blick. Es war sein Vater.
In märchenhafter Atmosphäre
feiern Arian und sein Vater ihr Wiedersehen.
Doch die Freude ist nicht ungetrübt.
Tobes und Morpheus überreden unseren Helden
zu etwas, das ihnen selbst unmöglich ist.
Ivoria, 14. Juni 1793
Eine sanfte Brise
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