Die Masken von San Marco
an und schwieg. Schließ lich sagte er: «Das kann ich nicht. Es gibt nur zwei Personen, die autorisiert sind, Passierscheine für den Palazzo Reale zu unterschreiben: Graf Grünne und Feldzeugmeister Crenneville. Sonst zählt nur die Unterschrift des Kaisers und der Kaiserin.»
Tron hob die Augenbrauen. «Sagten Sie gerade, die Unterschrift der Kaiserin?»
«Sie meinen, ich soll die Kaiserin …?»
Tron nickte. «Genau das meine ich.»
Königsegg seufzte, und auch unter dem Tisch war ein schwermütiges Knurren zu hören. «Wo erreiche ich Sie nachher, Commissario?»
«Wieder im Palazzo Balbi-Valier», sagte Tron.
49
Der Schuss, ein dumpfes Plopp, fiel zehn Sekunden nachdem die malefico aufgehört hatte zu läuten und sich bereits eine erwartungsvolle Stille über die Piazza San Marco gelegt hatte. Franz Joseph hatte langsam und konzentriert bis zehn gezählt, während er vor dem Standspiegel des Schlafzimmers seinen Gesichtsausdruck und die Haltung seines Kopfes überprüfte – es wäre ein Fehler, morgen alles dem Zufall zu überlassen. Mit welcher Miene sollte er die Menge mustern, die jetzt erwartungsvoll an seinen Lippen hing? Das Kinn noch ein wenig mehr angehoben? Freundlich-landesväterlich oder eher streng-entschlossen? Und: Sollte er zusammenzucken, wenn der Schuss fiel? Oder sollte er sein Mienenspiel auf ein stoisches Minimum beschränken und lediglich die rechte Hand heben, um der Panik, die vermutlich sofort nach dem Schuss ausbrechen würde, Einhalt zu gebieten?
Franz Joseph trat zwei Schritte zurück, strich die Uniformjacke glatt und kam zu dem Schluss, dass ein weiterer Durchgang erforderlich war. Es hing zu viel davon ab, dass morgen alles wie am Schnürchen klappte. Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sagte, ohne den Blick von seinem Spiegelbild zu nehmen: «Noch einmal, Rottner.
Wenn ich das Zeichen gebe.»
Leibkammerdiener Rudolf Rottner verneigte sich. In der rechten Hand hielt er eine Fliegenklatsche, in der linken ein Glöckchen. Er hatte auf ein Zeichen des Allerhöchsten hin bereits ein Dutzend Mal geläutet, anschließend stumm bis zehn gezählt und dann die Fliegenklatsche auf die Hutschachtel niedersausen lassen, die er auf das kaiserli che Bett gelegt hatte. Bei jedem Klingeln hatte der Kaiser tief durchgeatmet, sich zwei Schritte auf den Spiegel zubewegt und nach dem Plopp der Fliegenklatsche das Kinn emporgereckt und das Gesicht verzogen – allerdings immer ein wenig anders. Was das alles für einen Sinn haben sollte, hatte der Allerhöchste Rottner nicht erklärt. Selbstverständlich hatte er keine Fragen gestellt.
Wieder hob der Kaiser den Arm – das verabredete Zeichen –, und wieder schwenkte Rottner das Glöckchen ein paarmal hin und her. Dann zählte er langsam bis zehn und sah zu, wie der Allerhöchste erneut mit durchgedrücktem Kreuz auf den Spiegel zuschritt, das Kinn nach oben reckte und zehn Sekunden später, als die Fliegenklatsche – plopp – auf die Hutschachtel schlug, kurz zusammenzuckte, den Blick auf die Zimmerdecke richtete und die rechte Hand hob. In dieser Haltung blieb er stehen, während sich seine Lippen stumm bewegten. Schließlich drehte er sich um und nickte befriedigt. «Das wär’s dann, Rottner.»
Erstaunlich, dachte Franz Joseph, während er in sein Arbeitszimmer ging, um dort an eines der Fenster zu treten – erstaunlich, wie glatt sein gewagter Plan bisher abgeschnurrt war. Dass es den Commissario auf diesem Schiff beinahe erwischt hätte, war bedauerlich, aber offenbar war der Mann wieder auf dem Posten. Jedenfalls würde er morgen Abend die Gelegenheit haben, ihn zu sehen und ein paar Worte an ihn zu richten. Erstaunlich auch, dachte er weiter, wie harmonisch die zahlreichen Audienzen des heutigen Nachmittags mit den hiesigen Honoratioren verlaufen waren. Diese Venezianer waren so anders als die ungehobelten Böhmen und die aufsässigen Ungarn! Sie waren höflich, brachten ihre Anliegen mit Bescheidenheit vor, und wenn man gezwungen war, ihnen etwas abzuschlagen, trugen sie es mit Fassung. Oder taten sie nur so? Bei diesen Italienern konnte man nie wissen.
Franz Joseph schob den Vorhang zur Seite, öffnete den verzogenen Fensterflügel und blickte auf die Piazza hinab, die unter ihm im Schein der Gaslaternen schimmerte. Ob er wohl das Podest sehen konnte, auf dem er morgen mit einer energischen Handbewegung der ausbrechenden Panik Einhalt gebieten würde? Franz Joseph beugte sich aus dem Fenster, drehte den Kopf nach
Weitere Kostenlose Bücher