Die Masken von San Marco
anderen Sestieri war in der vorletzten Nacht nichts Ernsthaftes vorgefallen. Kein Mord, kein Raubüberfall, kein Einbruch – und auch nicht die Verhaftung eines Mannes, der eine wertvolle Halskette in seinem Besitz hatte.
Trons Gedanken waren immer wieder zu der bizarren Geschichte zurückgekehrt, die ihm der Oberhofmeister erzählt hatte – eine Verhaftung in einer Trattoria, die es nicht gab. Königsegg hatte gelogen, das stand fest. Aber weshalb? Und was hatte er sich von seinem Besuch auf der Questura versprochen? Es sprach jedenfalls alles dafür, dass der Oberhofmeister in Schwierigkeiten steckte. Und das konnte Tron nur recht sein. Denn es bedeutete, dass Kö nigsegg sich wahrscheinlich wieder melden würde.
Als Bossi kurz vor zehn sein Büro betrat – Tron war wieder mit der Durchsicht des Emporio della Poesia beschäftigt –, spielte er kurz mit dem Gedanken, ihm von dem Besuch des Oberhofmeisters zu berichten, ließ es dann aber sein, zumal Bossi etwas ganz anderes auf dem Herzen hatte.
«Ein Signor Montinari ist an der Piazza San Giobbe nicht bekannt», erklärte Bossi. Er ließ sich vorsichtig auf dem knarrenden Bugholzstuhl nieder, auf dem Königsegg gestern Nachmittag gesessen hatte. Die Sterne seiner Schul terklappen glänzten und blitzten, als hätte er sie gerade nach Kräften poliert – was vermutlich auch der Fall war.
Tron beugte sich über seinen Schreibtisch. «Haben Sie in der Kirche nachgefragt?»
«Selbstverständlich», sagte Bossi kühl.
«Und in den Läden am Campo?», erkundigte sich Tron.
«Es gibt nur einen einzigen Laden am Campo San Giobbe, einen Gemüseladen. Die Leute haben noch nie etwas von einem Signor Montinari gehört.»
«Also hat Pater Silvestro gelogen», schlussfolgerte Tron.
«Oder Pater Silvestro ist selbst belogen worden und hat uns das erzählt, was er für die Wahrheit hielt.» Der Vollständigkeit halber fügte er noch die dritte mögliche Version hinzu.
«Oder er ist belogen worden und hat selbst gelogen.»
Bossi zupfte die Ärmel seiner Uniformjacke glatt und seufzte. «Das alles ergibt nicht den geringsten Sinn.»
«Dann fangen wir ganz von vorne an», sagte Tron lä chelnd. «Signor Montinari – wer immer das in Wirklichkeit ist – bestellt persönlich eine Grabstätte auf San Michele.
Dann fährt er nach Peschiera und holt den Sarg seines Vaters ab. Er wird im Zug ermordet, und eine andere Person – nämlich sein Mörder – nimmt an seiner Stelle den Sarg am Bahnhof in Empfang und leitet ihn weiter nach San Michele. Auf der Beerdigung am nächsten Tag ist aber Signor Montinari wieder am Leben – was nicht sein kann.
Also ist Signor Montinari nicht der Mann, der den Sarg nach Venedig gebracht hat. Oder nicht derjenige, der die Grabstätte bestellt hatte und auf der Beerdigung war.»
Bossi schüttelte den Kopf. «So kommen wir nicht weiter, Commissario.»
Tron nickte. «Ganz recht. Wir drehen uns im Kreis. Es steht allerdings eines fest.»
«Was?»
«Dass es sich – rein formal – um einen Raubmord gehandelt hat», sagte Tron. «Nur dass die Beute – der Sarg – in diesem Fall nicht spurlos verschwunden, sondern ordnungsgemäß begraben worden ist.»
«Das sagte ich ja.» Bossi drehte die Augen zur Decke. «Es ergibt einfach keinen Sinn.»
«Nur unter einer Voraussetzung.»
«Und die wäre?»
«Dass wir es hier mit einem ganz normalen Sarg zu tun haben.»
Bossi runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Commissario.»
«Eigentlich müssten Sie als Venezianer darauf kommen.»
Tron sah Bossi an. «Warum hat sich die christliche Gemeinde in Alexandria nicht beschwert, als die venezianischen Kaufherren ihr die Gebeine des heiligen Markus entführt haben?»
Bossi starrte auf die goldenen Knöpfe am Ärmel seiner Uniformjacke, so als wäre in ihnen die Geschichte der Serenissima eingraviert. Schließlich hob er den Kopf und sagte: «Weil die Kaufherren in den Sarg des Evangelisten heimlich einen anderen Heiligen gelegt hatten. So steht es in der Chronik des Dogen Andrea Dandolo.» Er hob fragend die Augenbrauen. «Sie meinen, es könnte eine andere Leiche in dem Sarg liegen? Nicht die Leiche von Signor Montinari?»
Tron schüttelte den Kopf. «Ich meine lediglich, dass sich in dem Sarg etwas befinden könnte, das wir nicht vermuten. Ich weiß natürlich nicht, worum es sich handelt. Aber es wäre eine Erklärung für das merkwürdige Verhalten von Pater Silvestro. Er hat uns etwas
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