Die Masken von San Marco
Tischchen vor dem geöffneten Fenster.
Spaur, der auf Tron den Eindruck machte, als plagten ihn schwere Sorgen, musterte ihn missmutig. «Das ist nicht ganz meine Dienstzeit, Commissario.»
Wie bitte? Seit wann hielt sich Spaur an Dienstzeiten?
Tron deutete eine Verbeugung an. «Es geht um etwas au ßerordentlich Wichtiges, Exzellenz.»
Einen Augenblick lang hatte Tron die Befürchtung, dass ihn Spaur auf Montag vertrösten würde – vielleicht war ja Signorina Violetta auf dem Weg zu ihm. Doch dann hob der Polizeipräsident resigniert die Schultern. Er deutete auf eine plüschbezogene Causeuse und einen Sessel, die an der Rückwand des Salons unter einem Bild des Kaisers und der Kaiserin standen. «Nehmen Sie Platz, Commissario.»
Tron brauchte eine Viertelstunde, um die Geschichte zu erzählen – der Mord im Coupé, die nächtliche Exkursion zur Toteninsel, die Sprengstoffreste im Sarg und dann der zweite Mord, im gleichen Modus Operandi ausgeführt, am Campo San Maurizio. Der Polizeipräsident war seinen Ausführungen mit wachsendem Interesse gefolgt.
«Das Problem», schloss Tron seinen Bericht, «ist, dass wir nicht wissen, warum dieser Mann den Sarg gestohlen und ihn gleich wieder abgeliefert hat. Wir wissen auch nicht, aus welchem Grund er Ziani getötet hat.» Tron seufzte. «Es ergibt alles keinen Sinn.»
Spaur hatte, während er Trons Ausführungen lauschte, in Goldpapier eingewickelte Konfektstückchen aus der lin ken Tasche seiner Hausjacke gezogen und in seinem Mund verschwinden lassen. Erst ein Praliné aus Trüffelkrokant, dann ein Haselnuss-Praliné, schließlich ein rosafarbenes Fruchtfondant-Praliné. Es klang etwas undeutlich, als er sprach. «Existieren schriftliche Aufzeichnungen zu Ihren Ermittlungen?»
«Nur ein Bericht, den Bossi im Moment auf der Questura schreibt», sagte Tron.
Spaur runzelte unwillig die Stirn. «Einen Bericht für wen?»
«Toggenburg wird ein Protokoll verlangen, wenn er den Fall übernimmt. Mit Tatortfotos, Zeugenaussagen und den Sektionsbericht.»
Der missbilligende Ausdruck auf Spaurs Gesicht hatte sich verstärkt. «Sie gehen also davon aus, dass wir die Kommandantura einschalten?»
«Was die Zuständigkeiten betrifft, haben wir keinen Entscheidungsspielraum», erwiderte Tron förmlich. «Die Aufklärung eines Attentats auf den Kaiser gehört nicht in die Hände der italienischen Polizei. Wenn wir den Fall nicht sofort abgeben, könnten wir selbst in Verdacht geraten.»
«Die Angelegenheit wird erst zu einem Fall, wenn wir ihn abgeben.» Spaurs Stimme klang jetzt scharf. «Wie sind die Aussichten, diese Leute schnell zu fassen?»
«Schlecht», sagte Tron. «In unseren Karteien sind nur gewöhnliche Kriminelle. Wir brauchen die politischen Dossiers. Ich vermute, dass diese Personen bereits registriert sind.»
Ein schlagendes Argument, den Fall schleunigst weiterzureichen, fand Tron. Doch anstatt zustimmend zu nicken, zog Spaur zwei weitere Pralinés aus der Tasche und starrte sie unschlüssig an, so als würde er um eine wichtige Entscheidung ringen. Erst Nougat und dann Marzipan? Oder lieber umgekehrt? Schließlich blickte er auf. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit.
«Sagt Ihnen der Name Holenia etwas?»
«Nein.» Tron schüttelte den Kopf.
«Alexander Holenia war Chef der militärischen Aufklä rung im Hauptquartier in Verona», erläuterte Spaur. «Er hat den Dienst vor einem Jahr quittiert und lebt in Venedig.
Wir sind als junge Offiziere bei der ersten Arcièren-Leibgarde in Wien gewesen, zuständig für die Regimentsstandarten. Er ist ein Freund von mir. Ich glaube nicht, dass er uns einen Dienst abschlagen wird.» Der Polizeipräsident wickelte einen Nougatwürfel aus seinem goldenen Papierkleidchen.
«Äh, welchen Dienst?» Tron hatte Mühe zu folgen.
«Zugang zu den Dossiers der Kommandantura kann er Ihnen nicht verschaffen», erwiderte Spaur knapp. Er lehnte sich auf seinem Sessel zurück und schloss die Augen. «Aber er verfügt über ein blendendes Gedächtnis. Und er war jahrelang zuständig für aufrührerische Aktivitäten im Veneto.»
Wie bitte? Tron brauchte einen Augenblick, um zu be greifen, was Spaur da eben gesagt hatte. Er musste schlucken. «Soll das bedeuten, dass wir den Fall nicht abgeben?»
Spaur hob die Schultern. «Das entscheiden wir, wenn ich am Montag aus Asolo zurück bin.»
Spaur hatte also die Absicht, sich bis dahin in die Berge abzusetzen. Vermutlich zusammen mit
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